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Prolog 3

Calvin’s Werk zu Gottes Beitrag

Da die Freistadt Schilda an einem Ort erbaut wurde, an welchem nach Ansicht von Herzog Adolf I. von Schleswig-Holstein Gottorf nur Dummköpfe siedeln würden, war es ihm nicht schwergefallen, der Bitte von Philipp II. zu entsprechen. Er verkaufte den Schildbürgern das Land am Meer, es waren rund 12 Quadratkilometer, zu einem rein symbolischen Preis. In erster Linie bestand sein Gewinn aber darin, dass ihm ein Sitz im kaiserlichen Admiralswerk zugesprochen wurde. Adolf I. verband damit die Hoffnung, dereinst zum Reichsadmiral berufen zu werden. Eine Hoffnung, welche sich jedoch nicht erfüllen sollte.

Dessen ungeachtet war es mit Sicherheit keine schlechte Idee, sich mit der mächtigsten Kraft des Kontinents gut zu stellen. Zumal religiöse Unruhen Europa in seinen Grundfesten erschütterten und kriegerische Auseinandersetzungen jederzeit möglich schienen. Außerdem gefiel Adolf I. die Vorstellung, dass ihm der spanische König einen Gefallen schulden würde, wenn er es zuließ, dass Schilda, versehen mit allen Stadt-, Markt- und Münzrechten, erbaut würde. Diesen Gefallen würde er vielleicht einmal einfordern können. Zum Beispiel wenn es darum ginge, sein kleines Reich in den Welthandel einzubinden. Noch fehlten ihm dazu die Möglichkeiten, aber die Idee schwelte schon eine ganze Weile in ihm.

Schilda würde dabei kein Hindernis, keine Konkurrenz sein. Zwar sollte die Stadt direkt am Meer erbaut werden, aber die See war an dieser Stelle zu flach, zu sandig und völlig ungeschützt vor den Naturgewalten. Absolut ungeeignet für einen Hafen. Schon gar nicht für Schiffe jener Größe, welche sich im Geiste von Adolf I. bereits daran machten, Waren aus Indien und China zu löschen.

Tatsächlich schien von außen betrachtet der Standort Schildas strategisch unklug gewählt. Klar, die Lage war äußerst malerisch. Aber man schrieb das Jahr 1571 und damals legten die Menschen noch herzlich wenig Wert auf einen atemberaubenden Ausblick. Bei der Landnahme war zu dieser Zeit noch der praktische Nutzen gefragt. Und den konnten die meisten Zeitgenossen bei diesem Flecken Erde nicht erkennen. Es war offensichtlich, dass die Neuankömmlinge dumm wie Bohnenstroh sein mussten.

Den Schildbürgern um Willem van Zwijger konnte diese Sicht der Dinge herzlich egal sein. Sie waren nicht erpicht darauf, im Mittelpunkt des Interesses der Mächtigen zu stehen. Ihnen war es ganz recht, wenn niemand ein gesteigertes Interesse an ihrer Stadt und deren Lage am Meer entwickelte. Sie wollten nicht hineingezogen werden, in die religiösen Wirrungen ihrer Zeit und dachten auch nicht daran, sich einen Platz in den Handelsströmen zu erkämpfen.

Mussten sie auch nicht. Denn sie waren in der Vergangenheit gesuchte Experten, deren Dienst im wahrsten Sinne des Wortes mit Gold aufgewogen wurde. Dieses Gold bildete nun die Grundlage, auf welcher die Stadt nicht nur aufgebaut, sondern für viele Generationen auch unterhalten werden konnte.

Rund 1500 Schildbürger zog es nach Schilda. Ihnen gemein war, dass sie von niederländischer Herkunft waren. Aber sie lebten bisher verstreut in aller Welt und hielten jeweils nur über lose Verbindungen zu anderen Schildbürgern Kontakt zur alten Heimat. Und trotzdem verband sie mehr als die meisten übrigen Menschen auf dieser Welt. Es war der Wunsch, nicht mehr außergewöhnlich zu sein, sondern einfach nur irgendein geschätztes Teil einer funktionierenden Gemeinschaft.

Schilda wurde nicht an einem Tag erbaut. Es dauerte Jahre, bis der Boden entwässert und befestigt war, bis feste Gebäude errichtet werden konnten und das Stadtleben richtig in Gang kam. Man betrieb diesen Aufbau gemeinsam. Jeder half jedem. Entscheidungen und der Fortgang von Arbeiten erfolgten nach rein sachlichen Kriterien. Niemand kam zu kurz und niemand genoss irgendwelche Privilegien. Eifersucht hatte keinen Platz in Schilda. Man teilte die Arbeit und den Erfolg.

Vermutlich war die freie Stadt Schilda die erste sozialistische Gemeinschaft dieses Planeten. Aber das interessierte niemanden. Weil das keine Leistung, sondern das Ergebnis eines logischen Denkens war. Alles andere als das Teilen von Fähigkeiten und Ressourcen erschien ihnen ineffizient. Selbst die Verrechnung von Leistungen würde nur Reibungsverluste bringen. Auch Gerechtigkeit entstünde nicht durch einen wie auch immer gearteten Verrechnungsprozess, sondern einzig und allein durch gegenseitige Wertschätzung, Anerkennung und das Vertrauen in die Bereitschaft der anderen, ihr Bestes für die Gemeinschaft zu geben.

Dieses logische Prinzip, dass es allen gut geht, wenn jeder und jede sein bzw. ihr Bestes gibt, funktionierte in Schilda perfekt. Weil die Leute intelligent genug waren und in der Vergangenheit ganz genau beobachtet hatten, welch Leid Eigennutz und Ungleichheit über die Menschheit gebracht hatten.

Diese Stufe der Erkenntnis hat Johann Adolf, Sohn und Nachfolger von Adolf I., nie erreicht. Denn als er im Jahr 1590 das Erbe von seinem Vater antrat, um fortan den Titel Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf zu tragen, machte er sich keine Gedanken über die Nachteile von Eigennutz und Ungleichheit. Vielmehr genoss er einen luxuriösen Lebensstil und investierte das vorhandene Geld in den Ausbau von Schloss Gottorf. Und als dies nicht ausreichte, scheute er nicht davor zurück, sich das fehlende Kapital zu leihen. Bald stieg seine Verschuldung ins Uferlose, worauf er gezwungen war, die wertvollsten Ländereien seines Reiches zu verpfänden. Unter den Gläubigern des Herzogs reihten sich auch die Schildbürger ein. Dabei profitierten sie nicht nur von hohen Zinszahlungen, sondern nutzten auch die Möglichkeit, über diesen Weg ihr Territorium auf nahezu das Doppelte der ursprünglichen Fläche zu erweitern.

Nein, Johann Adolf hatte kein glückliches Händchen in finanziellen Angelegenheiten. Sein überbordender Lebensstil führte beinahe zum Auseinanderbrechen seines Reiches. Allein die Tatsache, dass der absehbare Bankrott des Herzogs durch dessen frühzeitiges Ableben im Jahr 1616 abgewendet wurde, verhinderte Schlimmeres. So aber hinterließ er seinem Nachfolger, Friedrich III., ein Herzogtum, dessen finanzielle Aussichten desolat waren. Die Schulden drückten an allen Ecken und Enden. Nicht nur ging ein großer Teil des Staatshaushaltes für Zinszahlungen drauf. Die wichtigsten Einnahmequellen waren verpfändet und verkauft. Die Aussichten, sich aus diesem finanziellen Schlamassel aus eigener Kraft befreien zu können, waren entsprechend gering.

Die einzige Hoffnung, welche Friedrich III. in dieser Situation blieb, war der von seinem Großvater entwickelte Plan, in die weltweiten Handelsströme eingebunden zu werden und so vom Handel der Spanier mit Indien, China und der restlichen Welt zu profitieren. Allein ihm fehlten dazu das notwendige Knowhow und andere Argumente, welche es ihm ermöglicht hätten, seinen einzigen Trumpf, (nämlich) den Gefallen, den ihm das spanische Königshaus noch schuldete, einzulösen.

Diese Lücke galt es zu schließen. Und da er einsah, dass man aus Bauern und Fischern unmöglich innerhalb nützlicher Frist erfahrene Kaufleute und Handelsexperten machen konnte, entschied er sich dazu, die notwendige Expertise einzukaufen. Rasch musste er allerdings die bittere Erfahrung machen, dass die wahren Künstler auf dem Gebiet des Handels bereits vergeben waren. Sie leiteten mit großem Erfolg eigene Unternehmungen und verspürten keinerlei Lust, ihre komfortable Situation für ein Abenteuer zu opfern. Auch die zweite und dritte Garde hatte in den Niederlanden ein gutes Auskommen und ihre Motivation, irgendwo in Nordfriesland als Entwicklungshelfer mit ungewisser Zukunft zu wirken, war verschwindend gering.

Aus heutiger Sicht muss sich Friedrich III. vorgekommen sein, wie der Transferchef eines kleinen Regionalvereins mit höheren Ambitionen. Ohne Aussichten auf Teilnahme an der Champions League oder zumindest am Spielbetrieb in einer angesehenen Liga, ist es nahezu unmöglich, höherwertiges Spielermaterial an sich zu binden. In solchen Fällen muss man entweder die Ambitionen reduzieren oder auf in die Jahre gekommene oder gefallene Spieler zurückgreifen.

Herzog Friedrich III. hatte insofern Glück, als dass ihm der religiöse Irrwitz seiner Zeit in die Karten spielte. Wäre die religiöse Toleranz damals schon geboren, der gute Friedrich III. wäre tatsächlich gezwungen gewesen, Fischer und Schäfer in die Umschulung zu schicken. So aber konnte er, dank religiöser Streitereien, zumindest auf die vierte Reihe niederländischer Händler zurückgreifen. Zumindest auf einen kleinen Teil von ihnen. Konkret auf die Miesepeter, die Nörgler und jene, welche überall und immer zu kurz gekommen sind.

Friedrichs III. Chance tat sich auf, weil Calvin nichts wissen wollte von einem gütigen Gott, von Chancengleichheit und Vergebung. Im Gegenteil predigte er eine unüberwindbare Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen: Eine, welcher Gott schon zu Beginn der Schöpfung das ewige Seelenheil zugedacht hatte und eine zweite, welcher unabwendbar das Schicksal der ewigen Verdammnis drohte. Die doppelte Prädestinationslehre in ihrer schrecklichsten Ausbildung billigt auch dem Opfer Jesu keinerlei Auswirkung auf die Frage zu, ob ein Mensch letztlich im Himmel oder in der Hölle enden wird.

Letztendlich führte die doppelte Prädestinationslehre zu einer unsichtbaren Spaltung der Gesellschaft. Auf der einen Seite standen die Auserwählten und auf der anderen die Ausgestoßenen. Wobei sich niemand wirklich seiner Zugehörigkeit sicher sein konnte, da Gott gegenüber der Menschheit über sein Tun und Handeln keine Rechenschaft abzulegen pflegt.

Weil Menschen mit Ungewissheit nur schwer umgehen können, setzte sich die Meinung durch, dass es wenig wahrscheinlich sei, dass eine auserwählte Person im Leben von Pech und Misserfolg gezeichnet werde. Schon bald setzte sich deshalb ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert gewann die Geisteshaltung Oberhand, wirtschaftlicher Erfolg und offensichtliches Glück im Leben sei ein Zeichen dafür, in der Gnade Gottes zu stehen.

Entsprechend setzten religiöse Eiferer alles daran, wirtschaftlich erfolgreich zu sein und dies auch demütig zur Schau zu stellen. Doch es blieb nicht bei den Frömmlern. Weil sich kaum jemand mit der ewigen Verdammnis abfinden konnten – der Punk war im 17. Jahrhundert noch nicht erfunden – gaben fortan alle Calvinisten Tag für Tag ihr Bestes, um erfolgreich zu sein. Auf dass es den Anschein machen möge, sie würden zu den Auserwählten gehören. Der ausgeprägte Missionsgeist von religiös Erleuchteten sorgte in der Folge dafür, dass sich die protestantische Arbeitsethik rasch in der ganzen Welt verbreitete und das Gewinnstreben zu einem globalen Erfolgsmodell machte. Der Kapitalismus war geboren.

Allen Anstrengungen zum Trotz war es natürlich nicht allen vergönnt, erfolgreich zu sein. Egal wie gut man seine Sache auch machte, nach der Ideologie der Calvinisten bestand Erfolg nicht im Erreichen eines fixen Niveaus oder Leistungslevels, sondern in der Zugehörigkeit zur jeweiligen Spitzengruppe. Entsprechend konnte nicht jeder Mensch zur auserwählten Elite zählen.

Dieser Missstand wurde von der Mehrzahl der Menschen, die den biblischen Auslegungen ihrer religiösen Führer Glauben schenkten, stillschweigend akzeptiert. Aber schon damals gab es Nörgler und Unzufriedene, welche sich ungerecht behandelt fühlten oder spürten, im Leben zu kurz gekommen zu sein.

Diese schlossen sich in einer Bewegung zusammen, welche unter der Bezeichnung ReformReformisten (RR) Eingang in die Geschichtsbücher fanden. Dabei handelt es sich im Prinzip um eine Abspaltung der Calvinisten, welche zwar nicht die ganze dogmatische Lehre Calvins in Frage stellten, jedoch entscheidende Ergänzungen machten. Ihrer Ansicht nach machte es wenig bis keinen Sinn, von Gott in einer Art Vorlauf zur ewigen Seligkeit oder Verdammnis über den Planeten Erde gehetzt zu werden, wenn diese Mühsal keine Frucht liefern konnte. Gemäß ihrer Vorstellung bietet der Umweg über die menschliche Existenz jedem einzelnen Individuum die Möglichkeit, durch ein gottgefälliges Leben seine Chance auf ewige Seligkeit zu verbessern. Oder durch ein schändliches Verhalten alles zu verspielen und in der ewigen Verdammnis zu enden.

Es gibt gute Gründe, weshalb die reformreformistische Auslegung der heiligen Schriften Sinn ergab. Zumindest für jene Menschen, welche auf der Schattenseite des Lebens standen und befürchten mussten, dass die reine Lehre Calvins zu ihrem Nachteil wirkte.

Entsprechend fanden sich viele Schattenkinder, welche ihr Heil im ReformReformismus suchten. Die Bewegung aus Unzufriedenen, Ungerechtbehandelten, Unglücklichen und Zukurzgekommenen wuchs mit jedem Tag, an welchem weniger erfolgreichen Menschen vor Augen geführt wurde, dass Calvin und seine Clique einen exklusiven Kreis von Auserwählten bevorteilten. Und dass ihnen per Definition der Zutritt zu diesem Club der Exklusiven verschlossen war.

Den orthodoxen Calvinisten wiederum blieb der Verlust an den Rändern der Kirche nicht verborgen. Um den unerfreulichen Trend zu stoppen, ächteten die Calvinisten die ReformReformisten als Sekte, als Quelle des Übels und des Bösen. Ihnen drohten damit nicht nur gesellschaftliche Konsequenzen und wirtschaftlicher Niedergang – was die Theorie der Prädestination quasi indirekt bestätigte – sondern auch Haft und im Extremfall ein qualvoller Tod.

Aus diesem Pool von Menschen, die in Ungnade gefallen waren und verfolgt wurden, rekrutierte Friedrich III. seine Experten für den Import und Export wertvoller Güter. Zwar konnte er Ihnen kein Geld und außer ein paar spekulativen Projekten und Plänen auch keine wirkliche wirtschaftliche Perspektive bieten. Aber er versprach ihnen Sicherheit vor Verfolgung und das Recht zur freien Religionsausübung. Zumindest innerhalb der geplanten Stadtmauern und auch dann nur, wenn sie ihren kruden Theorien nicht ins Land trügen. Denn Friedrich III. gehörte selbst einer orthodoxen Richtung der Lutheraner an und hatte kein Interesse daran, dass sein Volk von religiösen Aufständlern in einen Unruhezustand gesetzt wurde.

So kam es, dass ein paar Dutzend Niederländer der mittleren sozialen Schicht sich um das Jahr 1621 auf den Weg machten, um die Stadt Feldwyla zu gründen. Eine Stadt, welche dem Herzogtum Schleswig-Holstein Gottorf zu Macht, Ansehen und finanziellem Erfolg verhelfen sollte.

Auf ihrem Weg zu ihrem neuen Siedlungsgebiet sahen die Exilanten in der Ferne eine leuchtende, kleine Stadt, welche sie tief beeindruckte. Diese Stadt sollte der Maßstab für ihr zukünftiges Streben werden. Es war Schilda.

Die Schattenkinder der ReformReformisten waren sich einig: Sie würden Schilda noch in den Schatten stellen!

 

 

„Calvin’s Werk zu Gottes Beitrag“ ist der dritte Teil des Prologs zu Paul Panters neuem Roman „Schattenkinder“. Wenn Sie erst jetzt eingestiegen sind, können Sie entweder auf die nachfolgend aufgeführte Liste der Beiträge klicken, oder die Seite mit dem bisher veröffentlichen Gesamtwerk besuchen, indem Sie hier klicken.

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