Prolog 2
Der degenerierte Adel
Willem van Zwijger war nicht der Erste, welche der drohenden Gefahr gewahr wurde. Aber er war derjenige, welchem die Idee zugeschrieben wird, die Schildbürger in einer neuzugründenden Stadt anzusiedeln. Sein Kalkül: Wären alle Einwohner in ihrer Art einzigartig, würde das einzelne Mitglied der Gesellschaft nicht mehr auffallen. Niemand würde herausragen. Keiner stünde im Verdacht, Gottes Liebling zu sein.
Willem van Zwijger war nicht irgendwer. Er war bereits unter König Karl I. von Spanien die graue Eminenz hinter dem Thron. Seiner Weisheit und Weitsicht war es zu verdanken, dass sich König Karl I. trotz seines jugendlichen Alters auf dem Thron behaupten und den Habsburgern in Europa eine bisher noch nie dagewesene Macht sicher konnte. Und dass dessen einziger überlebende Sohn Philipp II. sich nicht nur auf dem spanischen Thron behaupten konnte, sondern die Erfolgsgeschichte seines Vaters weiterschrieb. Philipp II. sollte dies Willem van Zwijger niemals vergessen.
Ob diese Erfolgsgeschichte ohne Willem van Zwijger tatsächlich Eingang in die Geschichtsbücher geschafft hätte? Sicher, der spanische Hof war zu jener Zeit die führende Nation Europas, ja der Welt. Das Reich von Karl I. erstreckte sich nahezu über den gesamten Erdball, weshalb der Monarch mit Stolz behauptete, in seinem Reich ginge die Sonne niemals unter. Doch welchen Anteil hatte König Karl I. tatsächlich an dieser Entwicklung? Als spanischer König sprach er noch zu Beginn seiner Amtszeit kein Wort Spanisch. Sein Französisch war lausig und selbst sein Niederländisch – Karl I. war in Gent geboren – war ausgesprochen schlecht. Er litt unter Schwermütigkeit, war zeitlebens außerordentlich entscheidungsschwach und lethargisch. Herausragend war er lediglich in seiner Leidenschaft der Völlerei. Wobei er dafür bekannt war, dass er seine Speisen weitgehend, ohne zu kauen, herunter schlang. Er litt ob seiner Fresssucht an Gicht, hatte am Ende wohl nur noch drei Zähne und seine Hämorrhoiden verhinderten, dass er sich zu Pferd fortbewegen konnte. Keineswegs ideale Voraussetzungen, um Anerkennung als Führer und Gestalter eines Weltreiches zu finden…
Ohne einen loyalen Souffleur im Hintergrund, welcher geschickt die Fäden in den Händen hielt, wäre Karl I. nicht der bewunderte Kaiser des heiligen römischen Reichs gewesen, sondern der degenerierte Abkömmling eines Adelsgeschlechtes, der er tatsächlich auch war.
Immerhin wusste Karl I. sehr genau, was er Willem van Zwijger zu verdanken hatte. Er stand in seiner Schuld und war klug genug, dies niemals zu vergessen.
Als sich die Symptome der Gicht, durch die krankhafte Fresssucht und den überbordende Konsum obergärigem Biers immer weiter verschlimmerte; als Asthma und Diabetes sein Leben zusätzlich zur Qual werden ließen, war es Willem van Zwijger, welcher ihn einfühlsam zur Erkenntnis führte, die Führung seines Reiches in andere Hände zu legen. Es war seine Idee, Spanien dem Sohn Philipp II. zu übertragen und die Kaiserkrone in die Hände seines Bruders Ferdinand I zu legen.
Diese Übergabe war klug und geschickt eingefädelt. Sie sicherte den Habsburgern noch für Jahrhunderte eine außergewöhnliche Stellung innerhalb Europas. Selbst heute glauben die Österreicher noch, ihre ruhmreiche Vergangenheit würde auf eigenen Leistungen und Fähigkeiten beruhen. In Wirklichkeit aber war es das Werk eines niederländischen Schildbürgers, welcher darauf verzichtete in Rampenlicht zu stehen. Das Einzige was den Österreichern ohne die Vorarbeit von Willem van Zwijger auf der Weltbühne der Politik jemals gelungen ist, bleibt bei genauerer Betrachtung die Meisterleistung, aus Hitler einen Deutschen zu machen.
Nach der Abdankung von Karl I. blieb Willem van Zwijger noch für einige Jahre in den Diensten von Philipp II. und sorgte dafür, dass dieser eine sichere Machtbasis im spanischen Reich aufbauen konnte. Danach trat er aus dem Dienst des Königs aus und reiste zurück in seine niederländische Heimat. In seiner Tasche der reiche Lohn seiner Arbeit in Gold, die Idee zur Gründung Schildas und ein Dokument, unterschrieben von Philipp II., welcher ihm die uneingeschränkte Unterstützung zusicherte, sollte er seine Pläne tatsächlich umsetzen.
Deshalb konnte der Herzog es nicht wagen, sich der Gründung der freuen Stadt Schilda entgegen zu stellen.
Natürlich war es nicht allein Willem van Zwijger, welcher die Schildbürger zusammenführte, um mit ihnen Schilda zu gründen. Es war eine eigentliche Bewegung. Entstanden aus einem Netzwerk europäischer Spindoktoren. Diese standen allesamt in Dienste einer von jahrhundertelanger Inzucht geschlagenen Adelsclique. Ihre Aufgabe war es dafür zu sorgen, dass in diesem abgehobenen Zirkus der Kuriositäten und Eitelkeiten nicht alles aus dem Ruder lief. Sie wirkten im eigenen Lande, aber auch in Europa und Übersee. Sie bildeten ein informelles Netzwerk, welches auch in Kriegszeiten Kontakt hielten, den Austausch pflegten und nach Lösungen suchten. Dabei kam den Schildbürgern entgegen, dass sie unbelastet von Amt und Würden ein pragmatisches Weltbild pflegen konnten. Dass sie nicht in starren Kategorien wie Freund und Feind zu denken und keine Pfründe zu verteidigen hatten. Denn der geistigen Elite war es schon zu jener Zeit egal, wer unter ihrer Führung mit den Insignien der Macht im Schaufenster der Öffentlichkeit stand. Sie konnten auf solche Äußerlichkeiten gut verzichten. Ihnen reichte es zu gestalten.
Dieses Netzwerk war es, welches die Idee von Willem van Zwijger aufnahm, es weiterentwickelte und es unter die Schildbürger in aller Welt verbreiteten. Das dauerte im sechzehnten Jahrhundert natürlich Jahre, weil ihnen die Segnungen der digitalen Kommunikation noch verwehrt waren. Umgekehrt hat das Fehlen von Facebook, Twitter & Co. verhindert, dass die Gemeinschaft sich schon nach kürzester Zeit in kleinlichem Gezänk und besserwisserischem Streit aufgerieben hat.
Gut Ding will Weile haben. Dieser Leitspruch hat auch für Hochbegabte seine Gültigkeit. Deshalb war die lange Zeitspanne, in welcher sich die Idee entwickeln konnte, kein Nachteil. Es blieb damit genügend Zeit, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten, zu analysieren, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und so die Idee immer weiter zu perfektionieren.
So entstand durch Austausch und Diskussion der Plan mit Schilda eine eigene, kleine Stadt zu gründen. Diese sollte außerhalb der Niederlande und dem direkten Einflussgebiet der Calvinisten entstehen. Der Standort sollte den Schildbürgern einen Neustart ohne Altlasten ermöglichen. Wobei Altlasten in ihrem Falle nicht Sünden oder Schulden waren, sondern übersteigerte Erwartungen und soziale Ausgrenzung. Um ein ganz normaler Teil der Gesellschaft zu werden, war es wichtig, dass man sich von der Schulblade befreien konnte, in welcher die Schildbürger Kraft ihrer geistigen Fähigkeiten gefangen waren. Niemand in ihrer Umgebung durfte sie und ihre Möglichkeiten kennen.
Deshalb entschieden sich die Schildbürger für Nordfriesland als neue Heimat. Zwar erinnerte hier Vieles an die verlassene Heimat. Aber hier drehten sich die Uhren langsamer und die Geschichten aus der weiten Welt waren schon Geschichte, wenn sie in Nordfriesland eintrafen. Und schon im 16. Jahrhundert interessierten sich die meisten Menschen nicht für die Vergangenheit und die damit zusammenhängende Historie. Man schaute lieber nach vorne, um sich so die Möglichkeit zu erhalten, dieselben Fehler immer und immer wieder zu begehen.
Jedoch bestand in einem solchen Umfeld die Gefahr, allein durch das vorhandene Denkvermögen unangenehm aufzufallen. Denn den Menschen nördlich der Eider pfiff der garstige Wind durch die Ohren, weshalb sie sich in erster Linie auf ihre harte Arbeit und weniger auf das einträglichere Denken konzentrierten. Besserwisser würden vermutlich also nicht gut aufgenommen. Und da bestand immer noch die Möglichkeit, dass der aufstrebende Calvinismus irgendwann auch in dieser Region Fuß fasste. Dann wäre der ganze Aufwand umsonst gewesen. Die Schildbürger stünden mit einem Schlag wieder im Verdacht, Gottes Lieblingskinder zu sein und ihr Exodus wäre umsonst gewesen.
Deshalb entschieden sich die Weisen unter den Schildbürgern dazu, den Bürgern von Schilda von Amtes wegen Dummheit zu verordnen. Wer sich künftig in der Stadt niederließ und damit den Schutz der Gemeinschaft erhielt, hatte sich dümmer anzustellen als er oder sie tatsächlich waren.
Den Männern fiel das nicht schwer, denn sie standen in der Regel im Sold von Politikern. Diese boten reiches Anschauungsmaterial und die lernfähigen Schildbürger hatten keine Probleme, sich aus diesem großen Erfahrungsschatz zu bedienen. Das einzige Problem bestand darin, dass sie fortan ziemlich unterfordert waren und der Versuchung widerstehen mussten, diese Lücke durch eine übertriebene Schauspielerei zu kompensieren.
Den Frauen wiederum nahm man ihre geistige Beschränktheit schon deshalb ab, weil sie Frauen waren. Zudem waren es sich die Schildbürgerinnen gewohnt, sich dumm zu stellen. Schließlich umgaben sie bisher ganz normale Männer, welche es auf den Tod nicht ausstehen konnten, wenn sie von Frauen überragt wurden. Weder körperlich noch geistig. Doch wer sich gerne größer gibt, als er eigentlich ist, übersieht leicht, dass er in Wirklichkeit von Schlaueren gesteuert und manipuliert wird.
So kam es, dass sich die Schildbürger ab dem Jahr 1571 auf den Weg nach Nordfriesland machten, um dort auf einem Flecken Land zu siedeln, welches die Nordfriesen eigentlich als unbewohnbar hielten. Wie dumm konnten die Schildbürger nur sein, ihre kleine Stadt an einem Ort aufzubauen, welcher der vollen Wucht von Meer, Wind und Wetter ausgesetzt war?
Das würde nichts werden. Da war man sich sicher.
„Der degenerierte Adel“ ist der zweite Teil des Prologs zu Paul Panters neuem Roman „Schattenkinder“. Wenn Sie den ersten Teil noch nicht lesen konnten, klicken Sie auf diesen Link und Sie werden direkt zum vorangegangenen Teil geführt. Wer die Geschichte der „Schattenkinder“ ganz lesen will, kann dies auf der extra eingerichteten Seite hier tun. Hier haben wir Teil 2, „der degenerierte Adel“ bereits eingefügt.