Die Krone der Schöpfung …
… eine regionale Nahzeit-Utopie

Wir schreiben das Jahr 2022 in Nordfriesland. Es ist Mitte Oktober und nach einem erneut trockenen, heißen Sommer fegen die ersten heftigen Herbststürme über Watt und Marsch. Die Gefahr der Pandemie durch das Covid 19-Virus ist noch immer nicht gebannt. Die Forschung hat erkannt, dass eine Immunisierung nach einer überstandenen Infektion nicht stattfindet, da das Virus andauernd mutiert, sich also jeder jederzeit wieder neu infizieren kann – bei gut 50% aller Betroffenen mit Verschlimmerungseffekt. Das allmorgendliche Testen ist zur Routine geworden, bevor man sich auf den Weg zur Arbeit oder in den 1-stündigen täglich erlaubten Ausgang macht. Die aktuellen Ergebnisse, übermittelt auf die PCW (Personal Crown Watch) am Handgelenk informieren das bestens vernetzte Umfeld über Infektionsstatus und Verhaltensmodus des Trägers. Das Anlegen von Crown Watches ist übrigens flächendeckend Pflicht geworden. Apple, Microsoft, Samsung und Huawei haben sich im Sommer 2020 angesichts der weltweiten Ausbreitung von Corona zusammengetan, um schnell ein preiswertes Modell analog zu den früheren Smartwatches mit einem einheitlichen, stabilen und virusunanfälligen Betriebssystem zu entwickeln. Selbstaktualisierende Apps wie HoNo (HomeNow) oder etwa KeeDi (Keep Distance) sorgen dafür, dass auch der letzte Uneinsichtige kapiert, wie Kontaktsperre, Ausgangsverbot und Social-Distancing im praktischen Alltag umgesetzt werden müssen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen derzeit im Rahmen der Gesundheitsvorsorge 75 % der Anschaffungskosten. Der Rest wird über eine zusätzliche Pauschale, ausgezahlt mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, finanziert. Über die Gefahren von G5 verliert niemand mehr ein Wort. Mittlerweile entwickelt man gerade global den Standard GX, der selbst in der Antarktis nicht das kleinste Funklöchlein mehr übriglässt. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass laufend alle Gesundheitsdaten wie u.a. Blutdruck, Herz- , sowie Atemfrequenz, Blutzucker, PSA-Werte oder Kalorienaufnahme an eine zentralen Erfassungsstelle übertragen werden. Krankenakte und Organspendeliste sollen im Triage-Fall Entscheidungshilfen an die behandelnden Ärzte geben.

Nichts fürchtet man mehr als die dritte erwartete Coronawelle, denn trotz der vielen lokalen Beatmungszentren, die mittlerweile selbst in den lokalen Rathäusern installiert sind, bleibt kompromissloses „flattening the curve“ das scheinbar einzige, halbwegs wirksame Konzept, wie das zurückliegende Jahr mit Welle 2 eindrucksvoll gezeigt hat. Über registrierte Bewegungsprofile, die früher als elektronische Fußfessel und als Eingriff in die persönlichen Grundrechte vehement abgelehnt wurden, diskutiert jetzt auch niemand mehr. Alles, was man zum täglichen Leben braucht, wird nach Hause geliefert. Die spontanen Nachbarschaftshilfen aus den Anfangstagen der Pandemie sind professionalisierten Organisationen gewichen, die jeden Service kontaktlos und just in time anbieten…

…doch die Menschen vermissen das kulturelle soziale Miteinander sehr. Und so erleben längst vergangene Konsumformen ihre Renaissance. Es gibt plötzlich wieder Autokinos. Natürlich nicht mit einem krächzigen Lautsprecher und einem Heizlüfter, der wie in den 70ern, ins Wageninnere gereicht wird. Wireless kommt der Sensorround-Sound in die HiFi-Anlage der Autos. Gute Standheizungen und Popcorn hat jeder selbst; die riesige dreidimensionale Laserprojektion des Films lässt die Zuschauer in Ihren komfortablen Blechkisten mitten drin sein. Man geht nicht, man „drived“ zusammen mit Freunden ins Kino und winkt dem Nachbarn durch die geschlossene Autoscheibe zu. Ein genusssolidarisches Gemeinschaftsgefühl – mit immunologisch sicherer Distanz wohlgemerkt – ist garantiert. Wacken soll übrigens zukünftig auf gleiche Art und Weise stattfinden. Nach 2 Jahren Zwangspause hat man nun endlich ein altes Militärflugfeld gefunden, das die hohen logistischen Anforderungen für eine solche Veranstaltung erfüllen kann.

Das Einkaufen von Luxusgütern und anderen Waren, die nicht zum täglichen Bedarf gehören, geschieht online und selbstverständlich mit virtuellen Rundgängen durch die ausgesuchten Outlet-Stores. Geliefert wird per Drohne ans Fenster oder auf den Balkon. Das ersetzt aber wohl nicht das Einkaufserlebnis, auch wenn man so oft bestellen und zurückschicken kann, wie man will. Der gefühlte und direkte analoge Kontakt zum Objekt der Begierde fehlt spürbar.

Eine schon immer umtriebige Keramikwerkstatt in einem denkmalgeschützten Städtchen in Nordfriesland entwickelte dazu eine ungewöhnliche Idee. Ein „Drive-In“ für Keramik-Liebhaber. Was in den USA seit den 50er Jahren Standard für viele Fastfoodketten und Straßenrestaurants ist, und in Deutschland von der „Goldenen Möwe“ gerade erfolgreicher denn je praktiziert wird, müsste sich doch auch für NonFood-Artikel umsetzen lassen, dachte die Inhaberin. Sie erwirkte mit viel Mühe und unter Zuziehung des Zorns der Nachbarn und Anwohner die Erlaubnis, vier freigehaltene Parkplätze vor dem Haus als Nutzungszone für dieses Experiment verwenden zu dürfen. Und siehe da, nach einer kurzen Informationskampagne über die sozialen Medien fuhren die Keramikhungrigen vor. Aus dem auf einem großen Monitor an der neugotischen Hauswand eingespielten Warensortiment suchten sie sich Keramikstücke wie Vasen, Teller oder Tassen aus. Diese wurden dann von der Inhaberin im schicken Schutzanzug mit aufgedruckter Töpferschürze und mit Mundschutz sowie Gummihandschuhen in Firmenfarbevor dem Kauf in desinfiziertem Zustand in´s Wageninnere zur haptischen Begutachtung gereicht. Nach einem knappen Vierteljahr war das vom Land als Pilotprojekt unterstützte Experiment auch technisch den Kinderschuhen entwachsen. Weitere Parkplätze kamen inzwischen dazu, und einige Nachbarinnen, die sich etwas dazu verdienen wollten, machten im Verkauf und in der Beratung mit.

Heute arbeiten 4 Lehrlinge, deren erhöhte Ausbildungsvergütung problemlos bezahlt werden kann, und zwei festangestellte Gesellinnen, auf Arbeitsplätze in drei Etagen des historischen Stadthauses verteilt, selbst an den Wochenenden, damit die Nachfrage an „Keramik, die den Alltag bereichert…“ online und im „Drive-In“ befriedigt werden kann. Das Medieninteresse war anfangs enorm – die Idee fand jedoch schnell Nachahmer. Im historischen Ortskern entwickelten sich die kleine Fußgängerzone und das Straßenkarrée rund um den Marktplatz blitzartig zur florierenden Drive and Buy-Zone für hochwertige Kleidung, Schmuck, Wohnaccessoires, Kunsthandwerk, Spirituosen, Konditoreiwaren, Eis u.v.m.  Ladenleerstand ist als „Talk oft he Town“ schon länger kein Reizthema mehr. Das Drive and Buy – Prinzip weitet sich gerade auf die früher stillen Seitenstraßen des alten Ortkernes aus, wo Ladenlokale, die seit den 90er Jahren oder länger brach liegen, in Lichtgeschwindigkeit wieder reaktiviert werden. Niemand hätte gedacht, dass sich die „Vision Zukunftsstadt“ aus dem Bundeswettbewerb 2015 einmal auf diese Weise erfüllen würde. Mittlerweile ziehen Ortszentren in der ganzen Republik nach, und die einst sterbenden Innenstädte erfreuen sich an aufblühendem neuen Leben, sicherlich anders als ursprünglich gedacht. Aber solange der Impfstoff gegen Corona nicht gefunden ist, werden wir wohl mit dieser motorisierten Art des Bummelns und Shoppens leben müssen. Richtig raus können wir ja sowieso erstmal nicht mehr.