Was für eine Stadt wollen wir (Teil 2)
Ein Verkehrskonzept ersetzt kein Geschäftsmodell
Im ersten Teil des Beitrags über die Bemühungen der Stadt, die aktuelle Verkehrssituation in den Griff zu bekommen, habe ich Zweifel darüber geäußert, dass auf dem eingeschlagenen Weg die angestrebten Verbesserungen tatsächlich erreicht werden können. Im zweiten Teil möchte ich einen alternativen Weg aufzeigen, welcher nicht nur einen Mehrwert bieten könnte, sondern gleich mehrere, die weit über das Thema „Verkehrskonzept“ hinausgehen.
Die Idee hinter Friedrichstadt
Wieso ein Verkehrskonzept über die Verkehrslenkung hinausgehen muss
Den ersten Teil meines Beitrages habe ich mit den Corona-Spaziergängern begonnen. Diese machen sich Woche für Woche auf den Weg, um für eine gute Sache zu kämpfen. Zumindest für das, was sie für eine solche halten. Unabhängig davon wie durchdacht, fundiert oder ehrlich ihr Anliegen ist: Ihre Handlungsweise ist typisch für unsere Zeit.
Wohl kaum einer dieser Demonstranten würde auf die Straße gehen, um damit eine neue, eine bessere Welt einzufordern. Nein, ihr Engagement beschränkt sich auf das Bewahren eines scheinbaren Anspruches, ihr Leben auch weiterhin so führen zu dürfen, wie sie es zuvor geführt haben. Völlig losgelöst von der Frage, ob dies die Menschheit in eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen würde.
Man kann darüber den Kopf schütteln und sich über sie lustig machen. Tatsache aber ist, dass wir dieses Verhalten auf praktisch allen Ebenen von Politik und Wirtschaft, aber auch bei uns im Privaten sehen. Mit dem Ergebnis, dass wir de facto in der Vergangenheit leben, weil wir uns weitgehend darauf beschränken, Bestehendes zu verbessern. Und zwar so lange, bis das Neueste nicht mehr das Beste und das Aktuelle längst überholt ist.
Wer im Gestern lebt, hat keine Zukunft
Wohin das führt, werden wir in den nächsten Jahren am Industriestandort Deutschland schmerzhaft erleben. Nämlich dann, wenn die klassische Ingenieurskunst durch Netzwerktechnik, KI und Programmier-Skills abgelöst wird. In diesen Bereichen liegen wir bereits heute um Jahre zurück.
Was lässt sich daraus für Friedrichstadt ableiten? Im Idealfall natürlich, dass wir nach Lösungen suchen, welche die weitere Entwicklung vorausnehmen. Und wer vorausdenkt, konzentriert sich nicht darauf, mittels Einbahnstraßen Verkehrsströme zu leiten, sondern überlegt sich, wie die Stadt in Zukunft als Lebensraum und Wirtschaftsstandort attraktiv gestaltet werden könnte. Wenn diese Vorstellung vorliegt, hat sich die Verkehrsstrategie dieser Vision unterzuordnen. Mit anderen Worten: Wir organisieren den Verkehr so, dass er für das angestrebte Gesamtbild den größten Nutzen bringt.
dieWas jetzt aber gerade wieder geschieht: Wir „planen“ den Verkehr in der Annahme, dass alles so weitergeht wie bis jetzt. Wir gestalten also nicht, sondern wir reagieren. Noch schlimmer: Wir verhindern damit, dass eine zukünftige Entwicklung auch Zukunft verspricht, weil die Rahmenbedingungen, die wir mit der Verkehrsplanung vorgeben, dies nicht zulassen.
Ein Verkehrskonzept kann nicht für sich alleine stehen
Genau deshalb kann man ein wie auch immer geartetes Verkehrskonzept nicht für sich allein angehen. Es muss sich in andere übergeordnete Konzepte einbetten, wie die Städtebauförderung, den Masterplan Tourismus, ein Wirtschaftskonzept oder ein Umweltschutzkonzept.
Und wenn wir schon dabei sind: All diese Projekte müssten sich eigentlich unter dem Dach einer Gesamtidee befinden.
Wenn sie jetzt an „Zukunftsstadt“ denken… Nun, dieses Projekt wäre tatsächlich eine große Chance gewesen, sich grundsätzliche Gedanken über die Stadt und ihre Zukunft zu machen.
Offenbar ist es jedoch einer kleinen Stadt wie Friedrichstadt nicht gegeben, sich mit Verve dem Thema Zukunft zu widmen. Sei es, weil das aktuelle politische System praktisch vorgibt, dass die Führung nur noch aus Menschen besteht, welche ihre Zukunft bereits hinter sich haben und nur noch darauf bedacht sind, den erreichten Status quo zu zementieren. Sei es, weil die so gerne zitierten Ehrenamtlichen in der Politik weder die Zeit noch die notwendige Motivation finden, sich um inhaltliche Fragen jenseits reiner, quasi physisch fassbarer Sachentscheide, zu kümmern.
Daraus ergibt sich eine Konsequenz, welche bei genauerer Betrachtung so schlecht nicht ist.
Wenn sich nämlich die gewählten Volksvertreter nicht um die inhaltliche Entwicklung kümmern, können andere Gruppen, Foren, Organisationen in die Bresche springen, um diese Lücken zu füllen.
Etwa Parteien, welche nicht nur in der Vergangenheit leben. Umweltschützer, welche sich nicht nur Sorgen machen wollen, sondern konkrete Vorstellungen darüber haben, wie es werden könnte. Bürgerinitiativen, welche dafür einstehen wollen, dass man auch noch in Zukunft als Normalbürger in der Stadt wohnen kann und die Kinder nicht in Hamburg auf Wohnungssuche gehen müssen. Oder in Heide.
Die neue Friedrichstädter Unternehmergemeinschaft ist gefragt
Eine zentrale Rolle in dieser Angelegenheit fällt dabei der Wirtschaft, also den Gewerbetreibenden, zu. Und sie tun gut daran, diese Aufgabe anzunehmen, denn wenn es nicht gelingt, dem Standort Friedrichstadt neue Impulse, also attraktive Standorteigenschaften zu geben, dürfte sich ihre wirtschaftliche Grundlage mehr und mehr in den virtuellen Raum verabschieden. Und dort gilt, bis auf wenige Ausnahmen, dass der Preis der wichtigste Entscheidungsfaktor ist. Was wiederum kaum im Interesse der Unternehmerinnen und Unternehmer liegen dürfte.
Weil das einzelne Unternehmen sein Angebot vermutlich nicht mit den übrigen Geschäften des Ortes absprechen wird, wäre zum Beispiel besagte Verkehrspolitik ein geeignetes Spielfeld, um sich sinnvoll einzubringen. Denn über den Verkehr entscheidet sich nicht nur, wer aus welchen Gründen in die Stadt kommt, es ist auch das Feld, in welchem es relativ leicht fällt, sich von anderen Standorten zu unterscheiden. Ganz einfach deshalb, weil auch in anderen Städten die Verantwortlichen und Bürger träge, vergangenheitsbezogen und lieber gegen statt für etwas sind.
Aber gute Unternehmer zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie Dinge bewegen und gestalten. Und dass sie sich einen Markt schaffen.
Würde man das auch in Friedrichstadt so angehen, müsste sich niemand vor einer Fußgängerzone fürchten, denn man fände Lösungen, um die damit verbundenen Nachteile (mögen sie jetzt real oder nur eingebildet sein) in einen Wettbewerbsvorteil zu verwandeln. Man müsste sich halt nur damit beschäftigen, Lösungen statt Probleme zu finden.
Fazit
Ein Verkehrskonzept ist kein reiner Selbstzweck. Es ist ein Instrument, mit welchem man dazu beitragen kann, andere, übergeordnete Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund steht es nicht am Anfang, sondern hat in erster Linie einer großen Idee (Stichwort „Zukunftsstadt“) und danach den damit verbundenen konkreten Zielen (Stichworte „Wirtschaftsstandort Friedrichstadt“, „Wohnstadt Friedrichstadt“, „Umweltschutz in Friedrichstadt“, etc.) zu folgen.
Ohne diese ordnende Struktur aus großer Idee (allgemeines Ziel) und konkreten Zielsetzungen (Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt), macht ein Verkehrskonzept schlicht keinen Sinn. Eine Verschwendung von Zeit und Geld.
Weil die politisch Verantwortlichen aber wenig Interesse zeigen, eigene Ideen zu entwickeln, muss nach anderen Wegen gesucht werden, die weitere Stadtentwicklung auf eine solide, strukturierte Basis zu stellen.
Mein Vorschlag ist, dass sich zu diesem Zwecke jene Gruppierungen ins Zeug legen, welche die entsprechende Motivation mitbringen: Interessensgruppen.
Wer diesen Prozess moderiert und die einzelnen Vorschläge und Ideen zusammenführt, ist aus heutiger Sicht nicht wichtig. Vielleicht ist es eine unabhängige Gruppierung außerhalb der aktuellen Strukturen. Vielleicht werden die kommenden Kommunalwahlen aber auch getragen von einer produktiven Aufbruchsstimmung und das neue Rathaus von einem neuen Geist beseelt. Wir werden es sehen.
So oder so ist eine öffentliche Diskussion über die weitere Entwicklung wichtig und zwar lange bevor man mit teuren oder unumkehrbaren Maßnahmen den Gestaltungsspielraum einengt.
Entscheidend ist, dass irgendjemand beginnt und sich weitere Kreise finden, welche sich an dieser spannenden Arbeit beteiligen.
Kleine Handbücher für Bürgerbeteiligungen
Diese kleine Auflistung von Literatur zum Thema Bürgerbeteiligung haben wir bereits früher verwendet. Macht nichts, denn sie ist so aktuell wie sie es vor einem Jahr war.
Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur)
Zitat aus Seite 5:
Daher spielt die Mobilisierung der Bürger für eine aktive Beteiligung auf den vorgelagerten Planungsebenen eine besondere Rolle. Verschiedene erfolgreiche Beispiele von Verkehrsprojekten sowie aus der Bauleit- und Stadtplanung bestätigen, dass durch eine frühzeitige und offenere Bürgerbeteiligung die Transparenz und Akzeptanz von Planungsentscheidungen erhöht werden kann.
Mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung (Bertelsmann Stiftung)
Das Problem, breite Akzeptanz für Großprojekte zu finden, ist allerdings nicht einfach zu lösen. „Auch mit Bürgerbeteiligung ist bei Infrastrukturprojekten nicht mit allen Betroffenen Einvernehmen zu erzielen“, sagt Jörg Dräger. Klar sei aber:
Wenn die Behörden von der Planung bis zur Realisierung immer nur die Mindeststandards für die Beteiligung der Öffentlichkeit erfüllen, kosten die dann entstehenden Proteste viel mehr Zeit, Geld und Energie als eine frühzeitige informelle Bürgerbeteiligung kosten würde.
Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung
Planungsprozesse initiieren und gestaltend begleiten (Stiftung Mitarbeit)
Bürgerschaftliche Engagement verstärkt sich, nicht zuletzt in Fragen der Gestaltung des unmittelbaren Lebensraumes. Es trifft aber auch auf größere Offenheit von Politik und Verwaltung zur Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen gerade an konkreten Planungen auf lokaler Ebene. Dabei kommt es oft zu schwer überbrückbaren Gegensätzen zwischen bürgerschaftlicher Betroffenheit und administrativem Expertentum. Die folgenden Beteiligungsmodelle, von der Anwaltsplanung bis zu den Stadtteilforen, versuchen diese Kluft zu überbrücken, Beteiligung zu professionalisieren, sie aber auch als wertvolle Ressource politischer Planungsprozesse fortzuentwickeln.
Bürgerbeteiligung im Städtebau – Ein Leitfaden (Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr)
Schon wieder ein CSU geführtes Verkehrsministerium, welches sich um Bürgerbeteiligung bemüht. Erstaunlich…!
Handbuch Bürgerbeteiligung (Bundeszentrale für politische Bildung)
Echte Bürgerbeteiligung setzt voraus, dass politische Mandatsträgerinnen und -träger sich von einer reinen Top-down-Politik verabschieden und die Bereitschaft für einen souveränen Umgang mit offenen Austausch- und Mitwirkungsprozessen aufbringen. (Seite 13)
Alle diese Leitfäden und Hilfsmittel sind kostenlos über das Netz zu beziehen. Ein Klick auf den Titel und Sie gelangen direkt zur Quelle. Keines der Werke behauptet, dass man auf diese Weise alle Bedürfnisse befriedigen kann. Es ist einfach nur der schlauere Weg, Dinge besser zu machen. Schwarmintelligenz statt Arroganz der Macht.
Moin Sidney, ich finde es gut, dass mal wieder was Substanzielles in der „PRAWDA“ steht… Du hast Recht, mit dem was Du sagst. Ich würde sogar noch weiter gehen und nicht einen Gedanken mehr an ein Verkehrskonzept verschwenden. Für die dreieinhalb Straßen im alten Ortskern und die unumstößlichen physikalischen Gegebenheiten, die Du schon genannt hast – enge Straßen und (Gott sei Dank) unverrückbare Bebauung, sind die Lösungsmöglichkeiten sehr endlich. Ich muss mich da, was das Autofahren in Friedrichstadt angeht, auch an die eigene Nase fassen – aber 15 Pakete mit Keramik kann ich nicht auf dem Fahrrad durch den Regen fahren – und wir wohnen nun mal „mittendrin“… Und das ist genauso mit dem Großeinkauf, den wir wie viele vom „Kreisel“ holen…
Ich würde vielmehr (und das sage ich seit fast 7 Jahren) damit beschäftigen zu überlegen, welche Art von Gewerben / Unternehmungen mit professionellem Anspruch und scharfem Profil im Ortskern wirklich langfristig und ganzjährig tragfähig sind, den Anwohnern oder/und den Besuchern auch kulturell nützen und die Attraktivität der Stadt/Region im Sinne eines sanften Tourismus stetig auf hohem Niveau halten. Aktuell sind wir da auf einem passablen Weg, wenn ich mir die Um/Neu-Belegung der Geschäftsbelegungen nach dem „großen Häuserverkaufsboom“ und die Gruppe der Neufriedrichstädter*innen so anschaue… Friedrichstadt lebt seit 400 Jahren vom Handel und Wandel, mal mehr mal weniger gut. Da muss man sicher immer wieder aufmerksam hinschauen und gefühlvoll ansetzen… Von daher tut ein Blick in die Vergangenheit doch gut, auch wenn es die nahe mit dem Scheitern eines „sogenannten Verkehrskonzeptes“ ist. Man muss die Fehler ja nicht unbedingt nochmal machen – das tut die Nachfolge-Generation ohnehin, ohne das wir es verhindern könnten… Wir müssen alle untereinander das konstruktive Gespräch im Augernblick suchen. Dafür braucht es keine Vereinigungen, Organisationen oder Gruppierungen – dafür braucht es kommunikative, ergebnisoffen und fair miteinander diskutierende Menschen, so es die denn hier gibt…
Hallo Markus,
natürlich gibt es hier auch kommunikative Menschen, welche bereit sind eine offene Diskussion zu führen.
Was eher zu kurz kommt sind Foren, in denen so eine Diskussion möglich ist. Liegt wie Du richtig feststellst allerdings nicht an den Foren. Das Problem sind die Lautsprecher, welche dafür sorgen, dass keine offene Diskussion in den öffentlichen Bereichen stattfindet. Entweder werde Andersdenkende die dagegen halten einfach ausgeschlosen oder vor aller Welt niedergemacht. Das macht es natürlich schwer…
Deshalb sind neue Vereinigungen und Organisationen sehr wohl sinnvoll, weil dadurch eine andere Gesprächs- und Diskussionskultur etabliert werden kann. Ich bin da ziemlich optimistisch. Den Rest kann man mit Wahlen regeln…