
Die Demokratie in der Sackgasse
Ist eine Einheitspartei die Lösung?
Es mehren sich die Zweifel, ob die Demokratie, wie wir sie heute erleben, die beste aller Möglichkeiten ist, eine Stadt, ein Bundesland oder eine Nation zu führen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung neigt inzwischen dazu, sich nach einer starken Hand zu sehnen. Nun, die Russen und Chinesen machen gerade die Erfahrung, dass eine solche autoritäre Führung nicht zwingend der ideale Weg ist. Vielleicht reicht es einfach, die Demokratie neu zu denken – bzw. neu zu handhaben. Vielleicht wäre ja eine Einheitspartei eine Lösung. Zumindest auf kommunaler Ebene.
Demokratie auf dem Lande
Donnerstag, der 26. Januar 2023, 19:00 Uhr, irgendwo in einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Etwas mehr als 70 Personen finden sich in einem großen Festsaal eines Landgasthofes ein, um eine Wahlliste für die kommende Kommunalwahl zu erstellen. 2 Kandidatinnen und 10 Kandidaten stellen sich zur Wahl. 11 Plätze sind zu vergeben.
Die Stimmung ist gelöst und erinnert ein klein wenig an ein Dorffest. Etwa an den jährlichen Weihnachtsmarkt vor der Kirche. Nur ohne Deko, Stände und Glühwein. Wobei es draußen eher kälter ist als zur Weihnachtszeit…
Die Wahlveranstaltung ist wieder einmal eine Gelegenheit, Freunde, Bekannte, Nachbarn und andere aus dem Dorf zu treffen. Gerade im Januar, wenn das Wetter garstig ist und nicht dazu einlädt nach draußen zu gehen, eine willkommene Möglichkeit sich wieder einmal zu treffen.
Vor der eigentlichen Wahl steht das übliche Prozedere, welches man korrekt, aber mit einer aufgeräumten Leichtigkeit hinter sich bringt. Es sind Formalien, ohne die eine funktionierende Demokratie offensichtlich nicht auszukommen scheint. Die Leute nehmen es ohne Murren hin, sie kennen es.
Danach stellen sich die Kandidatinnen und Kandidaten kurz vor und erklären, weshalb sie sich zukünftig für die Gemeinde engagieren wollen. Nur die Wenigsten von ihnen scheinen konkrete Ziele zu verfolgen. Eine politische Linie ist auch nicht erkennbar. Es geht darum, an vorderster Front mitzuarbeiten, Entscheidungen zu treffen, zu gestalten, wo es etwas zu gestalten gibt. Man tut der Mehrheit dieser Menschen kaum Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, dass sie hinsichtlich der Zukunft ihrer Gemeinde keine oder zumindest keine besonders spektakuläre Vision haben. Der Laden soll einfach laufen, und sie wollen dazu beitragen.
Rund 70 Wahlberechtigte in einem Raum haben nun die Aufgabe, aus dem Feld der Kandidaten genau eine Person aussieben zu müssen. Es wird exakt 11 Gewinnerinnen und Gewinner und einen einzigen Verlierer geben. Das braucht schon etwas Mut, denn das Wahlprozedere verläuft nicht anonym. Wer unter diesen Bedingungen nicht gewählt wird, kann nur hoffen, recht knapp unterlegen zu sein und möglichst nicht wie ein begossener Pudel vor den Leuten zu stehen, denen er ja Tag für Tag beim Bäcker, im Nahkauf oder vor der Schule, wenn man die Kinder abholt, begegnen kann. Respekt!
Demokratie und Einheitspartei – geht das überhaupt?
Doch das ist nicht das eigentlich Spezielle an dieser Situation. Besonders speziell ist, dass man als gewählter Kandidat/Kandidatin damit bereits die Wahl zur Gemeindevertretung gewonnen hat. Denn in der Gemeinde gibt es schon seit 2013 keine Parteien mehr, welche gegeneinander antreten. Die 70 Anwesenden wählen deshalb quasi stellvertretend für alle übrigen wahlberechtigten Einwohner der Gemeinde.
Rund 8,5 % der Wahlberechtigten entscheiden also darüber, wer zukünftig die Geschicke des Ortes leiten soll. Kann das aus demokratischer Sicht in Ordnung sein?
Nein, selbstverständlich nicht. In einer idealen Welt kämen alle 860 Stimmberechtigten zu dieser Veranstaltung und ein großer Teil von Ihnen würde sich zur Wahl stellen. Zumindest würden sich genügend Frauen und Männer motiviert fühlen, sich für das Amt zu bewerben, um eine klassische Wahl von Vertretern der konkurrierenden Parteien zu ermöglichen. Nur so ist die Welt nicht (mehr).
Wobei wir uns die Frage stellen müssen, ob dies auf kommunaler Ebene überhaupt sinnvoll ist.
Demokratie in der Sackgasse
Denn sehen wir einmal davon ab, dass das Einparteiensystem, für das obiges Beispiel nur stellvertretend steht, die personelle Auswahl einschränkt, hat die Einheitsliste nicht von der Hand zu weisende Vorteile. Vorteile, von welcher man gerade in Friedrichstadt stark profitieren würde.
Woraus diese bestehen, erkennen wir, wenn wir einen offenen Blick auf die vergangene Amtsperiode werfen.
In den zurückliegenden 5 Jahren standen sich in der Stadtverordnetenversammlung zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Auf der einen Seite die Bürgervereinigung mit der CDU (7 Sitze) und auf der anderen SPD und SSW (6 Sitze).
Was auf den ersten Blick wie eine ganz normale parlamentarische Auslegeordnung aussieht, ist in Wirklichkeit ein großes Missverständnis:
Das Spiel von Opposition und Regierung funktioniert in dieser Radikalität nur auf der Ebene großer Gemeinschaften. Und auch dort macht – wie wir gleich sehen werden – ein schwarz-weiß-Denken wenig Sinn. Dies hat folgende Gründe:
Fehlendes Potenzial
Im September 2021 wählten 60,4 Millionen Wahlberechtigte 736 Abgesandte aus ihren Reihen. Drei Jahren zuvor wurden 13 Abgesandte aus einer Menge von 2137 Personen auserkoren, ins Friedrichstädter Rathaus einzuziehen.
Bei einer Wahl geht es darum, die Besten für die freie Stellen der Volksvertreter / der Volksvertreterinnen zu besetzen. Je größer der Pool an Kandidaten und Kandidatinnen und je strenger die Auswahlkriterien sind, desto qualifizierter stellt sich logischerweise die Volksvertretung am Ende dar.
Zumindest in der Theorie.
Praktisch ist es aber sicher, dass diese Rechnung nur funktioniert, wenn der Kreis der Anwärter eine gewisse Größe erreicht. Bei 60,4 Millionen scheint dies gegeben. Bei 2137 eher nicht. Und das bezieht sich nicht nur auf statistische Unwägbarkeiten, sondern auch auf die Tatsache, dass das benötigte Wissen über die gesamte Bevölkerung gesehen ungleich verteilt ist. Bei 2137 Menschen wäre es selbst im Idealfall reiner Zufall, wenn sich hier alle gewünschten Fähigkeiten vereinigen würden. Noch kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Fachkompetenzen in lediglich 13 gewählten Menschen wiederfinden.
Daran lässt sich nichts ändern.
Wenn aber aus parteipolitischen Gründen auf nahezu die Hälfte des vorhandenen Wissens verzichtet wird, weil die eine Seite für die Argumente der anderen nicht zugänglich ist, dann ist das zu erwartende Ergebnis kein Zufall…!
Mit anderen Worten: Es ist entweder fahrlässig oder dumm, wenn man auf kommunaler Ebene Regierung und Opposition spielt.
Schwarmintelligenz
Universalgenies sind selten. Die meisten Menschen verfügen bestenfalls über Spezialwissen oder Talente in einem bestimmen Teilbereich. Aber egal wie gut sie sind, im Verbund sind sie besser.
Sehr schade bis schwer zu verantworten, wenn aus parteitaktischen Gründen darauf verzichtet wird, die Minderheit in die Überlegungen einzubeziehen.
Man kann jetzt sagen, die Minderheit hätte ja so oder so die Möglichkeit sich inhaltlich einzubringen. Aber Hand aufs Herz: Wir sprechen hier von Lokalpolitik. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ehrenamtliche Abgeordnete über 5 Jahre hinweg motiviert fühlen, sich inhaltlich intensiv mit den Sachgeschäften auseinanderzusetzen, wenn man ihre Voten weder ernsthaft anhören mag, geschweige denn gewillt ist, sie im weiteren Verlauf mit in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Wer mit beiden Beinen im Leben steht, kennt die Antwort: sehr gering.
Parteitaktisches Geplänkel auf kommunaler Ebene ist deshalb eine Verschwendung von knappen Ressourcen und Möglichkeiten.
Check and Balance
Der Begriff „Check and Balance“ entstammt dem amerikanischen Verständnis von Demokratie. Diese ist in den USA zwar inzwischen auch bis zur Unkenntlichkeit verrottet, was aber das Prinzip dahinter keineswegs entwertet.
Check and Balance (zu deutsch: Überprüfung und Ausgleich durch Gegengewichte) beschreibt das Verhältnis von Legislative (in unserem Fall die Stadtverordnetenversammlung) und Exekutive (in den vergangenen 5 Jahren de facto die Bürgermeisterin im Alleingang). Dabei geht es darum, dass die Legislative die ihr zur Verfügung stehende Macht dazu nutzt, die „Regierenden“ zu kontrollieren und ggf. in die Schranken zu weisen, bzw. einen inhaltlichen Ausgleich zu schaffen.
Wie wir in den vergangenen fünf Jahren schmerzlich erlebt haben, funktioniert dieser Kontrollprozess in Friedrichstadt nicht. Zum einen, weil dieser nicht gut mit dem norddeutschen, besser eigentlich, dem nordischen, offenen, konfrontativen Debatten- und Politikstil zusammenpasst. Man regelt die Dinge – im Verständnis der Bevölkerung zumindest – indem man miteinander spricht… An sich keine schlechte Idee. Funktioniert aber nur, wenn man es auch tatsächlich tut. Und zum miteinander Reden gehört unabdingbar auch das ehrliche Bemühen, einander zuzuhören…
Einem funktionierenden Check and Balance widerspricht auch, wenn sich zwei Lager derart feindlich gegenüberstehen, dass sie für die Argumente der Gegenseite nicht mehr zugänglich sind. Wenn es nicht mehr darum geht, das Beste für die Stadt zu erreichen, sondern Recht zu behalten und sich durchzusetzen.
Kann man so halten, wenn man tatsächlich schlüssige und gut durchdachte Lösungen zu bieten hat, welche allen Teilen der Bevölkerung gerecht werden. Aber auch dann verzichtet man auf das Potenzial der Gegenseite, welche selten bis nie vollständig im Unrecht ist oder per se schlechtere Ideen hat.
* breaking news * breaking news * breaking news *
Ganz nach dem Motto „die Geschichte wird von den Siegern geschrieben“, hat die zukünftige Ex-Bürgermeisterin in Zusammenarbeit mit ihren politischen Freunden ein wunderbares Werk über das politische Schaffen in Friedrichstadt während ihrer Amtszeit verfasst.
Wir vom Stadtjournal 1621 nehmen diesen Ball gerne auf. In den Wochen bis zur Wahl werden wir uns hier auf 1621.sh und in der nächsten Printausgabe, welche wir für die Wahlen planen, eingehend mit dieser Schadensbilanz beschäftigen.
Außerdem erwartet unsere Leserschaft eine wohlwollend-kritische Begleitung des kommenden Wahlkampfs, eine Analyse der Qualitäten der möglichen Nachfolger und ein Ausblick auf die Zeit nach dem Machtwechsel.
Fazit
Die vergangenen fünf Jahre haben bewiesen, dass das aktuelle System der Parteiendemokratie für eine kleine Stadt wie Friedrichstadt nicht mehr funktioniert. Das hängt zum einen damit zusammen, dass es ein wenig aus der Mode gekommen ist, sich (unentgeltlich) für die Gemeinschaft ins Zeug zu legen und zum anderen an einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der das Bestreben, einen Ausgleich zwischen den einzelnen Interessensgruppen zu schaffen, einer kompromisslosen Siegfriedensmentalität gewichen ist: The winner takes it all!
Ist es sehr abwegig, zu vermuten, dass es fähige Menschen geben könnte, die grundsätzlich bereit wären, sich zu engagieren, mit dieser Haltung aber gewisse Schwierigkeiten haben? Die es nach klugem Abwägen vermeiden, sich zwischen sinnloserweise verfeindeten Lagern aufreiben zu lassen und sich dann eben nicht ins Geschirr spannen lassen?
Eine Einheitsliste würde zumindest verhindern, dass sich die unterschiedlichen Gruppen als Folge eines falschverstandenen Wettbewerbsdenkens gegenseitig blockieren. Allerdings: Dem Mangel an integrem und fähigem Personal kann man allein mit organisatorischen Mitteln wohl nicht beikommen. Sehr hilfreich wäre sicher die Etablierung einer Art politischen Willkommenskultur, in der man grundsätzlich Interessierten echte Wertschätzung zeigt und sicher ausschließen kann, dass ein Gefühl aufkommen könnte, einfach nur als Listenfüller gebraucht zu werden.
So oder so: Eine Einheitsliste auf kommunaler Ebene würde zumindest verhindern, dass egozentrische Charaktere in der Politik eine Machtbasis erhalten, die ihre Handlungsmöglichkeiten ins Ungleichgewicht zu ihren Fähigkeiten stellt. Anders gesagt: Viel Macht sollte durch große Kompetenzen abgepuffert werden, sonst wird es gefährlich.
Auch dieser Punkt spricht klar für das System der Einheitsliste, die sicherlich auch für unsere Stadt ein echter Gewinn wäre.
…moin Sidney! Auf (m)eine einfache Formel reduziert: Sachverstand statt Machtverstand… das wird umso wichtiger, weil es wahrscheinlich demnächst 17 Stadtverordnete geben wird, was die „Kompetenzbündelung“ nicht unbedingt leichter macht. Dazu kommt, dass wahrscheinlich „altgediente“ Ratsmitglieder nicht mehr antreten werden… Das kann allerdings „Strafe“ und „Chance“ zugleich sein… Wir werden in den kommenden Wochen vermutlich erleben, wie sich die „nächste Generation“ in Position bringen wird… Einige kleine Zeichen sind ja schon gesetzt… Eine gute Voraussetzung für das, was Du Dir wünschst, wäre ein Patt zwischen allen Parteien und Wählervereinigungen nach der Kommunalwahl, was zur Kooperation auf Sachebene zwingen würde. Ein „Winkelzug“ wie die plötzliche Bildung einer Fraktionsgemeinschaft zwecks Mehrheit zwischen FBV und CDU (weil die FBV keinen BM stellen wollte oder konnte) muss von vorneherein ausgeschlossen werden. Wenn Fraktionsgemeinschaft – was eine Lösung wäre – dann unter allen Parteien. Das wäre legitim und böte die Plattform für gemeinschaftliches Arbeiten… Muss man mal drüber nachdenken…