Kommentar
Weshalb es richtig ist, dass man die Grachtenweihnacht 2021 abgesagt hat
Wegen der dramatischen Entwicklung der Covid 19 Pandemie hat die Stadt die diesjährige Grachtenweihnacht abgesagt. Keine Überraschung und eigentlich auch nichts, was man kritisieren könnte. Wobei: Hätte man den Anlass durchgeführt, hätte man dafür ebenso gute Argumente finden können. Zumindest, wenn man die bundesweite Handhabung der Krise als Maßstab nimmt.
Es ist schon seit längerem bekannt, dass die Übertragung der Covid 19 Viren über Aerosole erfolgt und die größten Gefahrenpunkte deshalb in geschlossenen Räumen zu suchen sind, wo sich diese Schwebekörper aufkonzentrieren. Im Outdoor-Bereich, besonders an Orten mit regelmäßigem Wind, ist das Risiko deshalb nach dem heutigen Stand des Wissens nicht besonders hoch.
Berücksichtigt man dann noch, dass man Veranstaltungen wie die Grachtenweihnacht nicht im gewohnten Rahmen, sondern mit zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen durchführen würde, kann man durchaus nachvollziehen, wenn nicht alle glücklich sind, dass die Grachtenweihnacht 2021 abgesagt wurde.
Angesteckt wird überall – vor allem aber in geschlossenen Räumen
Dazu passt das Ergebnis einer Erhebung der Macher der Luca App: Gemäß ihrer Studie – welche keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt – finden dreiviertel aller Ansteckungen in geschlossenen Räumen von Clubs und Bars statt. Bei Veranstaltungen – hier ist nicht ganz klar, ob diese im offenen oder geschlossenen Raum stattgefunden haben – steckten sich etwas mehr als 7% aller Menschen mit dem Virus an.
7% klingt harmlos, bedeutet aber, dass sich (aktuell) in einer Woche 4500 Personen bei Veranstaltungen anstecken und 15 Menschen pro Tag sterben, weil sie irgendein Event besucht haben. Was aber viel wichtiger ist: wegen diesen 4500 werden weitere 5100 krank (tagesaktuell betrachtet). Wer will es den Stadtlenkern angesichts dieser schrecklichen Zahlen also verdenken, wenn sie jetzt die Reißleine ziehen? Dass die Grachtenweihnacht abgesagt wurde, ist also durchaus vernünftig.
Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich wirft es einen Spiegel auf das widersprüchliche Verhalten der Politik im Allgemeinen und auf das der Friedrichstädter Stadtführer*innen im Speziellen.
Regeln gelten für alle. Nun, zumindest beinahe
Erinnern Sie sich noch an den 24. September 2021? Nun, für die meisten Menschen hat dieser Tag keine Bedeutung, denn der Jahrestag der Gründung der Stadt Friedrichstadt wurde als Exklusivevent unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert. Natürlich war der Jubelevent schon von der Grundidee her kein Volksfest, sondern eine exklusive Geschichte, in welcher sich die Elite weitgehend selbst feiern wollte.
Trotzdem hatte die „Feier“ ein Ausmaß, welches durchaus das Potenzial hatte, ein Superspreader-Event zu werden. Um das zu verhindern, wurde ein hygienisches Sicherheitskonzept entwickelt und durchgesetzt.
Stellt sich die Frage, was der Unterschied ist, zwischen der elitären Feier zum Jahrestag der Stadtgründung und einem Anlass, bei welcher sich die große Mehrheit der Menschen einfach nur trifft, um Spaß zu haben. Warum also ist das Eine möglich, während das Andere offensichtlich zu gefährlich ist?
Vordergründig liegt es vielleicht daran, dass am 24. September die Inzidenz deutlich tiefer war. Vermutlich war es aber eher so, dass die Stimme der Vernunft bei den Verantwortlichen untervertreten war.
Tatsächlich liegt es aber an der Ignoranz der Handelnden, welche sich zwar hochtrabend verantwortungsvoll gebärden, in Wirklichkeit aber einfach nur Schlafwandler sind, welche je nach persönlicher Interessenslage in Ihrer Risikobeurteilung hin und her wandeln. Diese Art des Krisenmanagements ist leider kein exklusives Privileg
Mathematik lässt sich eigentlich nicht interpretieren
Nein, das ist jetzt kein (gezielter) Vorwurf an die Bürgermeisterin und Ihre Getreuen. Es ist ein allgemeines Sittenbild, welches nicht nur die politisch Verantwortlichen auf Bund, Länder und Kreisebene in einem jämmerlichen Licht erscheinen lässt, sondern auch die meisten von uns.
Dabei ist es im Grunde sehr einfach: das Risiko beginnt im Kleinen:
Die flache Kurve ist in Wirklichkeit zu Beginn genau so besorgniserregend, wie ab dem Moment, wo man eine Steigung auch mit bloßem Auge erkennen kann. Die Wissenschaft erklärt uns das schon seit zwei Jahren. Man müsste ihr nur zuhören.
Die Absage der Grachtenweihnacht ist in diesem Sinne richtig. Auch wenn das konkrete Ansteckungsrisiko mit einer konsequenten 2G Regelung (vermutlich) nicht besonders hoch gewesen wäre.
Der Alptraum nimmt seine Fortsetzung
Zu argumentieren, man würde die Geduld der Bürgerinnen und Bürger überstrapazieren, wenn man immer wieder mit Einschränkungen komme, ist einfach nur verlogen. Der Alptraum nimmt nicht wegen der Einschränkungen kein Ende, sondern weil diese inkonsequent und unglaubwürdig umgesetzt, miserabel kommuniziert und nicht bis zum Ende durchgehalten wurden. Und weil sich Teile der Bürgerschaft außerhalb der Solidargemeinschaft verorten.
In der Summe sind diese Faktoren dafür verantwortlich, dass die Grachtenweihnacht 2021 abgesagt wurde. Dabei wird es nicht bleiben. Wenn dieser Trend anhält, wird das gerade für die Friedrichstädter und Friedrichstädterinnen kaum das letzte Opfer bleiben. Und das dürfte, diese Prognose sei hier gewagt, deutlich schmerzhaftere Folgen haben.
Hinweis:
Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Serie, in welchem ich auf die schwierige oder besser gesagt, besondere Saison 2020 zurückblicke, um daraus Rückschlüsse zu ziehen.
Bisher erschienen sind:
Corona Blues
Corona sei Dank
Friedrichstadt ist tot
Zwei Strategien gegen die Leere
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Warum Wissenschaft und Politik nicht immer an einem Strang ziehen
Moin Sidney, es ist schön, wieder mal etwas von Dir zu lesen. Ich möchte Deinem Artikel noch eine andere Perspektive hinzu fügen. Es gibt auch noch einen wirtschaftlichen Aspekt. So ein kleiner, für die Stadt sicher eher nicht einträglicher Event war über das Jahr stets durch Überschüsse der anderen Großveranstaltungen vermutlich zum Teil mit abgedeckt. Jetzt wären aber Hygienekonzept-Maßnahmen wie Bauzaun-Absperrung und 3 Tage Security für die Kontrollen etc. kostenmäßig dazu gekommen. Das macht auch wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn, wenn die Standgebühren das nicht einbringen… und was drei Glühwein in Sachen Distanz wahren ausmachen, kann man sich ausmalen…