Es ist ganz sicher selten, dass Stadtplaner in einer Stärken-Schwächen-Analyse feststellen, dass es eines der größten Probleme einer kleinen Stadt ist, dass schlecht über einander geredet wird. Genau das kann man aber in einem vor ein paar Jahren veröffentlichten Gutachten lesen. Friedrichstadt, so hörte ich gestern von einem Einwohner, wird von manchen Leuten als „Hauptstadt der Intrigen, üblen Nachrede und des Denunziantentums“ beschrieben. Ich habe erst gelacht. Aber lustig ist es eigentlich nicht.
Kein Ruhmesblatt für niemanden.
Ich kann verstehen, dass der Artikel über die die Art und Weise, wie der Magistrat die Insolvenz der Bürgermeisterin behandelt hat (nämlich erst einmal gar nicht), bei vielen Empörung ausgelöst hat. Ich selbst hätte ihn nicht veröffentlicht. Aber in einer offenen Gesellschaft und Demokratie kann man es auch anders beurteilen. Zumal wenn man aus einer Kultur kommt, die ganz anders damit umgeht. Außerdem gab und gibt es viele Bürgerinnen, die genau das richtig fanden und finden.
Deutschland ist eine Schuld- und Schamgesellschaft. Und kaum etwas ist mit mehr Scham belegt, als Privatinsolvenz. In Japan begehen Menschen Selbstmord, damit das nicht passiert. Und sie nehmen deshalb gar nicht erst einen Kredit auf. Es gibt daher sehr wenig Existenzgründungen. Für die Volkswirtschaft Japan ist das eines der großen Probleme. Ganz anders verhält es sich in den USA: Dort ist Insolvenz etwas, über das sich niemand schämt. Vor allem, wenn es in Folge unternehmerischer Tätigkeiten geschieht. Denn diejenigen, die etwas unternehmen werden im Gegensatz zu denen, die es unterlassen, zu Recht hoch angesehen. Dort ist es also nichts worüber man sich schämen muss, sondern eher der Beweis, dass man Taff ist. Stark. Etwas wichtiges gelernt hat. Das Wichtigste ist, dass man nach dem „Fallen“ wieder aufsteht. Davor haben Menschen Respekt. Das gilt aber selbstverständlich niemals für einen betrügerischen Konkurs. Was ja eh, klar ist.
In Deutschland wird das Thema verschwiegen. Darüber redet man nicht. Mit der Thematisierung dieser Insolvenz wurde dieses Tabu gebrochen. Insolvenz ist aber nicht das Einzige über das man nicht spricht. Man spricht auch nicht über Armut und über Reichtum. In Deutschland ist sogar der Einblick ins Grundbuch ist verboten. Die Besitzenden haben Angst davor, dass alle wissen, was sie alles besitzen.
Das ist nicht überall der Fall.
In Schweden kann jeder in die Steuererklärung seiner Mitbürger einsehen und erfahren wie viele Schulden jemand hat. Man geht dort sehr offen, mit diesen Fragen um. Das hat Vor- und Nachteile. Man kann nichts vertuschen. Es kann sehr unangenehm sein. Aber es fördert auch den sozialen Zusammenhalt, weil allen böswilligen Gerüchten die Grundlage entzogen wird. Das hat sicher auch damit zu tun, dass unsere nördliche Nachbarn seit Jahrhunderten darum bemüht sind, die sozialen Unterschiede nicht zu groß werden zu lassen. Sie sind als Gesellschaften „gleicher“ und solidarischer. Alle sagen dort „Du“ und man sucht stets den Konsens. Die Kommunen übernehmen die Fürsorge für Groß und Klein, von der Wiege bis zu Wiege. Das Sozialsystem hat mehr Geld zu Verfügung für Kindergärten, Altenbetreuung und zur Unterstützung von Familien. Die Bürger sind trotzdem nicht arm. Und die Statistiken beweisen: In Ländern mit geringen sozialen Unterschieden leben Menschen länger, sind gesünder und glücklicher. Wohingegen in Ländern in denen die sozialen Unterschiede groß sind , die Bewohner kränker sind und weniger glücklich. Wer in Deutschland arm ist, stirbt übrigens fünf Jahre früher und das hat nicht nur mit schlechterer Ernährung zu tun, sondern vor allem mit den sozialen Stress, der mit Armut und Unterordnung zu tun hat. Soziale Ausgrenzung ist schmerzhaft. Sie erzeugt die selben – im Gehirn nachweisbaren – Schmerzen, wie körperliche Verletzungen.
Friedrichstadt hat nach meiner Beobachtung eine ganze Reihe von Problemen, die die schlechte Stimmung in dieser Stadt erklären und schon lange vor meinem Zuzug und dem organisierten Widerstand der letzten Wochen begonnen haben. Schlechte Stimmung und das Gerede über einander gibt es seit Jahrzehnten. Das bedeutet aber auch: Soweit es die Stadt und alle öffentlichen Angelegenheiten betrifft, ist es notwendig alle Themen offen zu diskutieren und ALLE BürgerInnen, die Fragen haben oder Kritik formulieren, ernst zu nehmen und wert zu schätzen. Es braucht vor allem Transparenz. Die hat in letzter Zeit gefehlt. Das ist eine Tatsache und keine Lüge, wie manch einer auf der Einwohnerversammlung behauptet hat.
Wer heute in dieser Stadt kritisch ist und den Mund aufmacht, ist Zustandsstörer und hat es schwer. Und wer dann auch noch von außen kommt, soll nach Meinung vieler Alteingesessenen am besten seinen Mund halten. Neubürger werden als Bürger zweiter Klasse angesehen. Es sei denn, man singt das Lob derer die ihrer Ansicht nach das „Sagen“ haben und die „Deutungshoheit“. Das ist übrigens „normal“. Wenn man eine systemische Moderatorenausbildung macht, lernt als erstes, auf die „Ursprungsordnung“ zu achten. Wer war zuerst da? Wer kann danach. Unterschwellig ist die Geschichte (Biografie), die man teilt, für Gruppen eine unfassbar einflussreiche Größe. Das ist so – aber es ist nicht wirklich gut so. Es führt zu vielen Problemen. Vor allem wenn Gruppen im Wandel sind.
Mir scheint, dass viele Deutsche sich nur schwer damit tun Migranten zu integrieren. Es fällt ihnen ja sogar oft schon schwer „richtige“ Deutsche als Mitbürger zu akzeptieren und zu integrieren. Deutsche denken mit großer Leidenschaft schlecht über alle und alles und sie sind erschreckend schlecht gelaunt und gehässig. Vor allem Deutsche reden im Urlaub gerne schlecht über Deutsche. Wer länger in anderen Kulturen gelegt hat, weiß das. Und das gilt auch und manchmal sogar grade für manch fleißige „Kirchgänger“.
Autoritarismus hat eine lange Geschichte und sitzt uns in den Knochen
Deutschland ist auch ein Land mit einer schwierigen Geschichte, wenn es um Ausgrenzung, Gewalt auch soziale Ungleichheit, Autoritarismus, Faschismus geht. Das holt uns derzeit politisch schmerzhaft ein. Das Preußentum sitzt uns schwer in den Knochen. Der Polizeistaat, der Glaube an die Obrigkeit, die Ausgrenzung und Demütigung der „Armen“ und der „Anderen“ (manchmal reicht es schon zugezogen zu sein) und die hässliche Neigung der Anbiederung an „die da oben“ sind Teil dieses Syndroms. Schon früh hat sich in Deutschland ein Verständnis von „bürgerlich“ und „Bürgertum“ durchgesetzt, das auf Unterdrückung und Beschämung und Ausgrenzung setzt, sowie auf die Förderung von Sekundärtugenden: die Freuden der Pflicht, Sauberkeit, Vaterlandsliebe und schließlich auch „Heil Hitler“. In dem Wort „anständig“ versteckt sich der Begriff „Stand“. Es waren immer die oberen Stände, die sich das Recht herausnahmen zu definieren, was anständig ist, und was welchem Stand zusteht. Und wer sich nicht daran hielt war unanständig. Eine brutale Doppelmoral gehörte auch dazu. Es waren das Junkertum, die Großindustrie und die vom Abstieg bedrohten Kleinbürger, die Hitler an die Macht brachten. Und der Rest war „am Schweigen“. Hannah Arendt sprach von der Banalität des Bösen und meinte die Verantwortung der schweigenden Mehrheit, die das Böse möglich macht.
Erst kamen die Armen ins Arbeitshaus und dann die Juden. Erst wurden Vagabunden, Sozialrevolutionäre und Bettler – die den guten Schlaf und das gute Gewissen der Besitzenden bedrohten – mit Prügel, Zuchthaus oder Tod bestraft – dann die Juden. Judenfeindlichkeit gab es überall. Aber nirgendwo so konsequent und effizient und „ordentlich geregelt“ wie bei uns.
Der Untergang des Dritten Reiches war leider nicht der Untergang dieser Haltung. Wir mussten von außen befreit werden. Unsere Demokratie verdanken wir einem mutigen Mann wie Churchill, den tapferen Russen und Amerikanern, die uns befreien mussten und der Krieg und die Befreiung hat viele Menschen das Leben gekostet und Verwüstungen ungeahnten Ausmaßes zurückgelassen. Die anderen bekamen die Not und wir das Wirtschaftswunder. Sehr viele Faschisten blieben (übrigens vor allem in der Justiz) auf ihrem Posten, haben ihre autoritäre Haltung weitergegeben und nichts dazu gelernt. Die Aufarbeitung kam erst sehr viel später.
Natürlich gab es in Deutschland auch große Aufklärer, Denker und Dichter. Es gab nicht nur Beethoven, Bach, Kant und Lessing mit ihren schönen Gedanken. Aber es gab auch Schiller, Brecht, Böll, Hannah Arendt und Willy Brandt. Und natürlich gab es unter den Aufklärern auch wahre Humanisten und echte Liberale, die unter Freiheit nicht nur die Freiheit verstanden, sich ungestört auf Kosten der anderen Menschen oder der Natur bereichern zu dürfen.
Aber diese waren fast IMMER in der Minderheit. Vor allem politisch.
Und es gab eine großartige Sozialdemokratische Partei, der wir alle viel verdanken. Deren historisches Verdient größer ist, als es die Meisten heute noch wissen. Eine Partei, die ihr großes Erbe leider aufgebraucht hat. Dafür bezahlt sie einen hohen Preis. Aber natürlich liegt es auch daran, dass sie es versäumt hat, sich der Zukunftsthemen anzunehmen, die unsere Demokratie am meisten gefährdet: Der Umgang mit der Natur und der Klimawandel (lokal und global).
Demokratie ist keine einfache Sache – aber zu wertvoll, um sie denen zu überlassen, die keine Demokraten sind. Und wir stehen vor großen Herausforderungen.
Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Das hat Stärken und Schwächen. Erfunden wurde sie, weil die Väter des Grundgesetzes die Erfahrung gemacht hatten, dass das Volk keineswegs immer Recht hat und dass sich das Volk ganz schrecklich irren kann. Weil ihm die Sachkompetenz fehlt. Weil es außerdem oft genug bewiesen hat, dass es feige ist und oft auch „gemein“ (und wie!). Diese Argumente haben ihre Berechtigung.
Aber: Das gilt nicht zwingend für kleine Gemeinschaften, in denen alle sich sehr wohl ein Bild machen können, was der Fall ist, und in denen es dringend notwendig ist, alle mit ihren Bedürfnissen wahr zu nehmen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Schweiz macht uns vor, dass direkte Demokratie funktioniert. Und dass „radikale“ Positionen es immer schwer haben und der Fortschritt eine Schnecke ist. Wer mit Schweizern spricht lernt sehr schnell, dass Demokratie Arbeit ist. Es ist anstrengend sich mit allen Argumenten – dem dafür und dagegen – auseinanderzusetzen und die Entscheidung zu treffen, die am meisten dem Gemeinwohl dient. Demokratie heißt, dass alle an erste Stelle dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Und nicht dem eigenen Vorteil. Entsteht aber ein gegenteiliger Eindruck, so ist das verheerend und schwächt das Vertrauen in die Demokratie.
Damit die Demokratie funktioniert braucht es Transparenz und eine gute und ehrliche Kommunikation. Das gilt überall und es gilt (aus den oben genannten Gründen) vor allem in Friedrichstadt. Dies wurde vom neuen Magistrat vernachlässigt. Es wurden keine Protokolle mehr veröffentlicht. Wichtige Projekte wurden nicht erläutert. Der Magistrat hatte versäumt in dieser „Hauptstadt der üblen Nachrede, des Denunziantentums und der Intrigen“ umfassend und offen zu informieren und zu kommunizieren. BürgerInnen wurde auf Sitzungen nicht das Wort erteilt. Es wurde versäumt die Einwohnerversammlungen abzuhalten, die die Satzung fordert. Es gab im Zusammenhang mit der Wahl der Bürgermeisterin viel Unzufriedenheit und Gemauschel. Es gab Selbstherrlichkeit und einen manipulativen Umgang mit Worten und Fakten.
Und weil es in einer Stadt ganz normal ist, dass kein einziger Hausverkauf geheim bleibt, kein Baum, der gefällt wird, nicht irgendjemandem fehlt, kommt es, wie es dann kommen muss. Selbst ich habe in den letzten Monaten viele abenteuerliche Geschichten gehört. Geschichten darüber, wer sich wie bereichert und welche Naturschätze verschwunden sind. Die Kombination dieser beiden Faktoren (schlechte Kommunikation und unfassbar viel Tratsch und Gerede) ist toxisch und führt natürlich zu der schlechten Stimmung, die in Friedrichstadt schon lange herrscht. Das ist doch ganz einfach zu verstehen.
Müssen wir alles richtig finden, weil die Mitwirkung an der Kommunalen Willensbildung ehrenamtlich geschieht?
Müssen alle den Mund halten, die kein Ehrenamt ausüben? Sind Kritiker „Nestbeschmutzer“?
In der jüngsten Einwohnerversammlung sind Dinge geschehen, die allen demokratischen Tugenden und Anforderungen nicht genügen. Die Bürgermeisterin hatte Regeln aufgestellt, die mit der Satzung der Stadt nicht übereinstimmen. Es wurde Stimmung gegen Neubürger und Nichtbürger gemacht. Wer zu Wort kommen wollte, musste sich mit folgenden Informationen legitimieren. Name, Wohnort und vor allem wie lange wohnt man schon in Friedrichstadt und was macht man? Einer Mitbürgerin wurde das Wort mehrfach abgeschnitten, weil sie angeblich nicht in Friedrichstadt wohnt. DAS GEHT SO NICHT! Das ist zutiefst undemokratisch, beschämend.
Und es wurden Stimmen laut, die glaubten dem Magistrat einen Gefallen zu tun, wenn sie darauf verweisen, dass die Mitarbeit im Rat ehrenamtlich ist. Will sagen: Nur wer schon lange genug hier wohnt (wie lange?) und in Friedrichstadt ehrenamtlich etwas leistet, ist es wert gehört zu werden.
Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden
Mir scheint dies Haltung gefährlich und unberechtigt. Wer keine Zeit hat Politik zu machen, leistet möglicherweise trotzdem genau so viel für das Gemeinwohl oder die Gemeinschaft wie andere die sich für die Ehre entscheiden, die Angelegenheiten der Stadt zu beraten. Denn genau das ist es: Eine EHRE. Andere leisten als Familienvater oder Mutter, als Landwirt, als Kulturschaffende oder UnternehmerInnen unglaubliches. Oder durch sein Engagement für andere Dinge. Es ist nicht zulässig sich gegenseitig die Legitimation absprechen, eine Meinung zu haben und diese zu äußern. Zugezogene sind nicht Bürger zweiter Klasse.
Aber richtig ist auch:
Es ist auch nicht zulässig, den gewählten Vertretern im Rathaus pauschal zu unterstellen, dass sie NICHT ehrenhaft handeln und nicht das Gemeinwohl im Auge haben. Das ist genau so wahr. Und ich hoffe, dass ich nicht den Eindruck erweckt habe, dass ich dies denke.
Wir sind also sowohl darauf angewiesen, dass alle das Recht haben kritische Fragen und Argumente vorzutragen, als auch darauf, dass allen politisch tätigen Mitgliedern des Rates – bis zum Beweis des Gegenteils – redlichen Motive unterstellt werden und dass ihnen Anerkennung für ihre Engagement gebührt und dass sie – wie jeder – Fehler machen dürfen.
Ist Politik ein schmutziges Geschäft?
Viele denken heute, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist. Parteien haben einen denkbar schlechten Ruf. Das hat Gründe. Es ist heute auch der Tatsache geschuldet, dass sich die politischen Eliten in der jüngeren Vergangenheit immer weiter von den normalen Menschen und ihrem alltäglichen Problemen und Erfahrungen entfernt haben. Aber richtig ist auch: Jede Partei ist nur so gut, wie ihre Mitglieder.
Bis in die 80er Jahre hinein, waren auch noch „normale“ Menschen und Berufe im Bundestag und in den wichtigen Institutionen unseres Staates vertreten. Das gilt für alle Parteien und es gilt für die politische Administration und die Chefetagen großer – auch staatlicher- Unternehmen. Wir leben in beunruhigenden Zeiten: Der Unterschied zwischen arm und reich wächst immer noch. Dabei ist er schon viel zu groß und schadet der Gesellschaft. Wer hat, dem wird gegeben. Wer hat, der nimmt immer mehr und bekommt den Hals nicht voll. Die Konzentrationsprozesse (Vermögen, Grund und Boden, Konzerne) sind viel zu weit fortgeschritten. Und wir leben auf Kosten der Zukunft und der Natur. All das kommt auch im politischen Alltag einer kleinen Stadt wie Friedrichstadt an.
Die Frage danach, wem Friedrichstadt gehört, ist daher nahe liegend und wird – ob es dem Magistrat gefällt oder nicht – tagtäglich gestellt. Stimmt es eigentlich, dass inzwischen eine sehr kleine Zahl von Honoratioren die halbe Stadt besitzt und immer noch mehr aufkauft? Und wie verhält sich der Magistrat dazu? Ist er selbst beteiligt? An wen werden städtische Grundstücke verpachtet, verkauft, vermietet? Warum wird das nicht ausgeschrieben? Wer entscheidet darüber? Warum geschieht das hinter verschlossenen Türen? In einer Stadt, in der jeder über jeden redet und nichts unkommentiert bleibt und jedes Gerücht in nur einem Tag schon „rum“ ist, muss man als Magistrat das Transparenz-Gebot sehr ernst nehmen, wenn man das Sozialkapital – das Vertrauen in einander – stärken möchte.
Was ist schon geschehen, was sollte noch geschehen?
Die Stadt sollte ihre Transparenz-Offensive fortsetzen. Erste Fortschritte gibt es. Nachdem es zu Protesten im Rathaus kam, wurden die Protokolle innerhalb weniger Tage online gestellt. Die Forderung nach einer Einwohnerversammlung wurde sofort umgesetzt. Im Rathaus hat der Bau-Ausschussvorsitzende Beierlein erstmals das Gespräch mit den Bürgerinnen wirklich gesucht und die Geduld aufgebracht, auch die hartnäckigsten (verzweifeltsten, engagiertesten) BürgerInnen ausgehalten. In der Einwohnerversammlung hat die Bürgermeisterin über Dinge informiert, die viele BürgerInnen beunruhigen. Der Protest der Naturschützer auf dem Rathaus wurde aufgegriffen. Die Planung für die „Attraktivierung“ des Schwimmbades wird erst umgesetzt, wenn sie mit den Bürgerinnen diskutiert worden ist. Großartig! Die Wohnboote kommen nur an einen Platz, wo die Natur keinen Schaden nimmt. Der Schutz der Schilfgürtels wird also – bis zum Beweis des Gegenteils – ernst genommen. Die Kritik der Naturschützer daran, dass die Stadt nichts unternimmt, um die Raserei auf der Treene und das Vollzugsdefizit durch das Wasser- und Schiffahrtsamt zu beenden, hat den Magistrat dazu inspiriert, selbst eine Unterschriftensammlung gegen diese Verhältnisse zu starten. Der Magistrat braucht also die Hilfe von uns Bürgern, damit die zuständigen Stellen im Kreis oder im Land, ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Proteste der BürgerInnen waren nicht umsonst. Wir werden gehört. Gemeinsam sind wir also stark. Das ist gut so.
Was fehlt
Wir brauchen einen weit blickenden und mutigen Magistrat und eine Bürgerschaft, die wirklich in die Zukunft denkt und nicht immer nur an den Tourismus.
Alle Bürger profitieren vom Tourismus. Das ist zutiefst wahr. Was Friedrichstadt für uns alle so liebenswert macht, die gute Infrastruktur, die kleinen Geschäfte, die Restaurants und Cafes, die erstaunliche (relative) Urbanität, die Schönheit der Architektur, die große Liebe mit der die Rosen gepflegt werden, die Bänke vor der Tür, der große Gemeinsinn. Das alles macht Friedrichstadt kostbar und es führt dazu, dass es Menschen gibt, die nach nur einem Besuch dieses Kleinods nach Hause fahren, alles verkaufen und hier herziehen. Ist das nicht unglaublich?
Der Tourismus also ist durchaus wichtig für alle. Und er soll – wie wir gehört haben – auf dem heutigen Niveau erhalten bleiben. Es gibt bei den Tourismusverantwortlichen derzeit keine Wachstumsziele. Das wird den BürgerInnen gut gefallen, die sich inzwischen in ihrer eigenen Stadt immer fremder fühlen und die AUCH gehört werden müssen.
Und es gibt weitere wichtige Themen, die endlich ganz dringend AUCH diskutiert gehören. Wir müssen den Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweise für mehr NACHHALTIGKEIT jetzt voranbringen. Der Klimawandel, der unsere Region mit mehr Regen, steigendem Grundwasser, Stürmen und Trockenheit und – wenn wir nicht endlich den Naturschutz ernst nehmen – mit weiteren biblischen Plagen bestrafen wird, muss auf die politische AGENDA.
Es darf nicht sein, dass immer nur über Tourismus geredet wird und alle Energie der Stadt in die Förderung von Tourismus geht. Der Tourismus stellt nur 15 % aller Arbeitsplätze. 85 % aller Arbeitsplätze stellt das vom Tourismus unabhängige Gewerbe. Es reicht auch nicht immer nur über städtebauliche Verschönerungsmaßnahmen zu diskutieren. Spannend auch die Erkenntnis: Es kommen mehr Touristen mit dem Wunsch nach Ruhe und Natur – als solche, die sich für Architektur begeistern.
Wir müssen weiterdenken und wir können und müssen größer denken. Es gibt viele andere wichtige Maßnahmen mit denen wir Friedrichstadt als lebenswerte Stadt (Wohnen und Arbeiten), als familien- und kinderfreundliche Stadt, und als Dienstleistungszentrum für das Umland voranbringen können und müssen. Wir brauchen nachhaltige Mobilitätsangebote. Wir brauchen saubere und bezahlbare Energie für alle. Ich persönlich bin auch für Photovoltaik- oder Solaranlagen auf unseren Dächern, oder Fernwärme / Blockheizkraftwäre und am besten in Bürgerhand. Und wir brauchen die Zusammenarbeit mit Landwirten, die den Naturschutz ernst nehmen und die uns mit gesunden Lebensmitteln aus der Region versorgen. Der Naturschutz muss endlich ernst genommen werden. Er ist kein Beiwerk. Es ist ein „must“.
Die Stadt ist außerdem im Umbruch: Demografisch und ihrer sozialen Zusammensetzung. Wer wird in die Häuser einziehen, in denen in den nächsten 10-15 Jahren ein Besitzerwechsel ansteht? Welchen Anteil sollen Ferienwohnungen und Zweitwohnungen nicht überschreiten? Wie schaffen wir es, dass möglichst viele Häuser ganzjährig bewohnt werden? Gerade wegen des Gewerbes und um die Abhängigkeit vom Tourismus zu schmälern.
Und es gibt einen erkennbaren Wertwandel
Bei der Europawahl haben 30 Prozent aller Friedrichstädter grün gewählt. Doch wenn wir Umweltschützer vor dem Rathaus stehen, um auf Probleme aufmerksam zu machen, werden wir beschimpft und belächelt und geschmäht. Das mag vor zwanzig Jahren noch verzeihlich gewesen sein. Im Jahr 2019 geht das nicht mehr! Heute macht sich jeder, der nicht begreift, dass wir jetzt handeln müssen mitschuldig. Das ist natürlich unangenehm. Und manche macht es aggressiv.
Diese Haltung ist auch deshalb so kurzsichtig, weil der Norden und wir alle so viel zu gewinnen haben, wenn wir mit dem Klimawandel ernst machen. Das ist ein umfangreiches Kapitel, das bei anderer Gelegenheit hier zu betrachten ist.
Die CDU und SPD und viele Vertreter der Wirtschaft haben drei Jahrzehnte lang die Mahnungen und Lösungsansätze der Wissenschaftler (zu denen auch ich auch gehöre) ignoriert. Von den freien Bürgen ist dazu auch nichts zu hören. Und es reicht auch nicht sich hinzustellen und zu behaupten, man würde ja schon genug für die Umwelt tun, wenn man dafür sorgt, dass bei allen Planungen die Gesetze eingehalten werden (durch Beteilung des Amtes für Naturschutz). Und von der Wirtschaft müssen wir mehr erwarten als Greenwashing. Für alle muss das Gemeinwohl und die Zukunftsfähigkeit an erster Stelle stehen.
Der Preis, den wir, und vor allem unsere Kinder bezahlen werden, ist immens. Ich kann Greta Thunberg gut verstehen, wenn sie von uns fordert, endlich in Panik zu geraten. Genau das wäre – angesichts der Fakten – die einzig rationale und vernünftige Reaktion. Das Worst Case Szenario, das ab Mitte des Jahrhunderts der Fall sein wird, ist nichts, was wir weiter verdrängen dürfen. Vor zwanzig Jahren mag es rational gewesen sein, zu hoffen, dass technischer Fortschritt dies alles verhindern kann, heute ist es verantwortungslos, dieses Lied weiter zu singen. Wir haben zu lange gewartet.
Nur Leben ist Reichtum. Leben in all seinen Formen (John Ruskin)
Das gilt sowohl für uns als auch für alle Lebewesen. Und wie sagte Albert Schweizer so schön und zutreffend: „Wir sind Leben, inmitten von Leben, das sich nach Leben sehnt.“ Wer sich Christ nennt, hat heute keine andere Wahl, als umzudenken und so zu Handeln, dass die Schöpfung erhalten wird. Mit der Schrift „Laudate Si“ hat der Vatikan unmissverständlich die Grenzen dessen beschrieben, was ein gottgefälliges Leben heute bedeutet. Der Besitz von SUVs gehört nicht dazu. Und ein Recht auf die Zerstörung der Natur hat niemand.
Wer das Glück hatte, an der Treene eine der wenigen Wiesen zu finden, auf der man der Natur über längeren Zeit ihren Lauf ließ, der weiß wovon ich spreche. Ich habe im Juni auf einer prachtvoll blühenden Wiese gestanden und das Summen der zahllosen Insekten gehört. Dieses Konzert und der Anblick der vielen Schmetterlinge inmitten einer ansonsten stummen Landschaft war bewegend.
Moin Christine,
auch wenn Dein Artikel ziemlich lang ist, und ich hier und da Mühe hatte, Deinen Gedanken zu folgen, (was aber nicht an den Gedanken, sondern an den vielen Perspektivwechseln gelegen hat, die eingeflossen sind,) möchte ich den Versuch unternehmen, ihn auf eine einfache Formel zu reduzieren, die meiner persönlichen Wahrnehmung der Situation in der Stadt entspricht.
Wir brauchen keinen Machtverstand sondern Sachverstand in der Stadt – und das über alle politischen Gruppierungen hinweg.
Parteipolitik auf kommunaler Ebene ist meist kontraproduktiv im Hinblick auf das Ergebnis. Ehrenamtler, die wichtige Ratsfunktionen wahrnehmen, muss man qualifizieren, am besten bevor man sie in die Verantwortung nimmt, oder dies zumindest funktionsbegleitend tun… und das in allen Bereichen… dann können sie ihre guten Vorsätze auch fachlich für das Allgemeinwohl adäquat umsetzen. Gewählt werden ist leider keine ausreichende Qualifikation…
Was den Dünkel angeht, dass einige Friedrichstädter sich „friedrichstädteriger“ als andere fühlen, muss ich auf die für jeden nachzulesende Gründungsgeschichte hinweisen. Die Stadt ist qua Gründungsgedanke eine Zuzugsstadt, die davon lebt, dass neue Ideen oder Vorstellungen diesen Stadtorganismus nun fast 400 Jahre haben alt werden lassen, und die Historie weist hier Höhen und Tiefen aus, die es in sich haben. Wenn diese Stadt eine einzige echte Tradition hat, dann ist es die des sich immer wieder neu Findens und auch Erfindens. Das geht nicht ohne Auseinandersetzungen, unterschiedliche Positionen, Reibungen und Fehler ab. Aber die Auseinandersetzung darüber kann allerdings kompetenter geführt werden als noch vor hundert Jahren. Gute Ideen bleiben gute Ideen, auch wenn noch so viele sagen: das haben wir alles schon probiert – das funktioniert hier nicht. (Diesen Spruch habe ich übrigens in meinem ganzen Leben nirgendwo öfter gehört, als in den 5 Jahren, die wir jetzt schon hier sind…)
Ich finde, alles geht wenn man nur richtig will. Wohlgemerkt r i c h t i g und nicht halbherzig…
Bei Diskurs und Transparenz alleine darf es nicht bleiben!
Danke, liebe Christine,
dein Artikel gleicht so einiges wohltuend aus, was in der Einwohnerversammlung und zu anderen Gelegenheiten aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.
Du zeigst sehr schön, dass Emotionen und eine sachliche Erörterung sehr wohl vereinbar sind. Einfacher macht man es sich, wenn nur einer dieser Seiten Raum gegeben wird; oder halt komplett der Mund gehalten wird. Das hast du zum Glück nicht getan, sondern dir sogar noch die Mühe gemacht, viele Perspektiven einzubeziehen (Markus Jung sagte es bereits) und insgesamt sehr differenziert zu argumentieren. Dass du deine persönliche Ansicht an passenden Stellen hinzufügt, gefällt mir auch sehr gut.
Es war mir eine große Freude – bitte mehr davon!
PS: Danke an Herrn Batt, dass er diese Plattform zum Gedankenaustausch ins Leben gerufen hat. Möge sie sich – und wir uns mit ihr – gut weiterentwickeln!
Liebe Frau Strauss. Ich freue mich sehr über Ihren Zuspruch. Danke! Das Problem mit „der Politik“ ist ja tatsächlich, dass immer zu wenig Raum (nein Zeit) ist, einander wirklich zuzuhören und zu verstehen. Herzlich Christine Ax