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Stadt ohne Fenster
Von all den vielen Geschichten über die Schildbürger, welche von diesen meist selbst in Umlauf gebracht wurden und welche dazu dienten, die geistige Verfassung der Bürger von Schilda in Zweifel zu ziehen, ist jene vom Rathaus ohne Fenster vermutlich die bekannteste. Und ausgerechnet diese Legende basiert im Kern sogar auf Tatsachen. Allerdings hat sich die Geschichte im Laufe der Zeit stark verändert.
Schilda wurde nicht an einem Tag erbaut. Aber schon vom ersten Tag an war klar, wie die Stadt am Ende aussehen würde: anders. Die Schildbürger dachten nämlich nicht im Traum daran, die aus ihrer niederländischen Heimat bekannte Architektur in den Norden zu tragen. Ihr selbstgewähltes Exil sollte ein Neustart sein, dem nicht der bittere Beigeschmack verklärter Nostalgie anhängen sollte. Deshalb planten sie ihre Stadt im wahrsten Sinne des Wortes vom Grund auf neu.
Die Idee für die Grundstruktur der Stadt entstand schon im Jahr 1570. Eine kleine Expeditionsgruppe um Willem van Zwijgerhatte sich auf die Reise gemacht, um das in Frage kommende Stück Land vor Vertragsabschluss zu erkunden. Der Gruppe gehörten neben Willem van Zwijger, persönlicher Berater des spanischen Königs, Woldemar Hesselsz, Ratgeber des Sultans Abdallah al-Ghalib von Marokko, Victoria Hartog, Tochter von Dirk Hartog, dem Entdecker Australiens und Mariade Vlamingh, Tochter des Reeders Vinzent de Vlamingh, welche seit einigen Jahren bei der Familie ihrer Mutter in Venedig lebte.
Man traf sich in Rotterdam und nutzte die Dienste eines kleinen Kriegsschiffes der Armada Españolaum von Rotterdam nach Husum überzusetzen und sich so den beschwerlichen Landweg über 600 km zu ersparen. Von Husum ging es danach zu Pferd an den vorgesehenen Standort auf der Halbinsel Eiderstedt.
Schon an Bord der Santa Isabel nutzte man die Zeit, um an der Vision einer neuen Stadt zu arbeiten. Schnell war sich das Quartett einig, dass man den Aufbau der Stadt nicht dem Zufall überlassen dürfe. Struktur und Architektur müssten sich aber an den Grundprinzipien der neuen Gemeinschaft ausrichten:
- Gleichheit
- Freiheit
- Selbstbestimmung
- Verantwortung
- Respekt
- Harmonie & Ausgleich
- Berufung
Häuser, Straßen und die Lage der Baugrundstücke sind geeignet, diese Prinzipien zu untergraben. Darum würde es wichtig sein, schon die Grundstruktur Schildas mit Bedacht zu gestalten. Man wollte die Zeit der Reise deshalb dazu nutzen, einen ersten Entwurf zu erarbeiten. Dieser sollte dann später den übrigen Schildbürgern zur Weiterentwicklung vorgelegt werden. Man beabsichtigte dabei genauso vorzugehen wie zuvor, als es um die grundsätzliche Ausgestaltung des zukünftigen Zusammenlebens ging.
Angesichts der Tatsache, dass die Schildbürger vor der Stadtgründung über viele Länder und Regionen verstreut lebten, war das keine einfache Sache. Die Debatte über die Grundwerte der geplanten Gemeinschaft wurde deshalb meist auf dem Korrespondenzweg geführt. Dabei fungierten Willem van Zwijger, sowie der Florentiner Bankier Cosimos dalle Bande Nereals Koordinatoren. Margarete von Zaandam, die Gesellschafterin der französischen Königsmutter Caterina de’ Medici, wiederum, hatte die Aufgabe, eintreffende Vorschläge, Ideen, Einwendungen oder Bedenken in einem fortlaufenden Prozess zu einem Gesamtwerk zu verbinden. Auf diesem Wege entstand ein Werk, welches zwar nicht im klassischen Sinne demokratisch war, in welchem sich trotzdem jedes Mitglied der Schildbürger wiederfand. Kein Zweifel: Margarete von Zaandam war mit dem Manifest für Schilda ein kleines Meisterwerk gelungen, welches durch eine vollkommene Logik und eine faszinierende Harmonie bestach. Eine Harmonie, welche zweihundert Jahre später den tauben Ludwig von Beethoven zu seiner Eloge pour Elise inspiriert haben soll.
Ihr Werk war so gelungen, dass niemand unter den Schildbürgern auch nur den kleinsten Zweifel hegte, dass Margarete von Zaandamdies auch bei der Stadtsatzung gelingen würde. Sie sollten nicht enttäuscht werden.
Zuvor musste allerdings das kleine Expeditionskorps die notwendigen Planungsgrundlagen liefern. Dazu gehörte, dass die Gruppe die geographischen und meteorologischen Voraussetzungen aufnehmen würde. Außerdem war vorgesehen, die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Region abzuklären. Von ihren Beschreibungen und Einschätzungen würden die Gedankengänge der übrigen Schildbürger, welche Nordfriesland selbst noch nie gesehen hatten, abhängen. Ihr Bericht der Diskussion womöglich eine bestimmte Richtung geben.
Die vier Gesandten waren sich ihrer Verantwortung voll bewusst. Sie trugen die Fakten zusammen, wägten Unabwägbarkeiten ab und versuchten ihren zukünftigen Nachbarn und Mitbürgern ein möglichst umfassendes Bild der Situation zu vermitteln.
Neben ihrer eigentlichen Aufgabe der Berichterstattung stand es Ihnen frei, sich ebenfalls an der Diskussion zu beteiligen. Genau genommen starteten sie diese Diskussion schon während ihres Aufenthaltes in Husum. Dort saßen sie nächtelang in der Schankstube ihres Gasthofes und überboten sich gegenseitig mit Visionen eines zukünftigen Schilda. Sie taten das so eifrig und intensiv, dass die einheimischen Gäste, welche der niederländischen Sprache nicht mächtig waren, sich regelmäßig nach ihnen umdrehten, um dem Treiben verständnislos zuzusehen. Was für schräge Vögel das doch waren. Sollte es tatsächlich so sein, dass sich diese Leute in ihrer Gegend niederlassen wollten? Wie Bauern oder Fischer sahen diese Fremden ja nicht gerade aus. Was genau wollten sie also hier? Das würde nicht gut gehen!
In ihrem Eifer bemerkten die Vier gar nicht, dass sie unter Beobachtung standen. Auch nicht, dass der Wirt immer wieder an ihrem Tisch vorbeistrich. Erst als er nach zwei Stunden darauf aufmerksam machte, dass die eine Gaststube und kein Wartesaal sei, und er davon lebe, dass seine Gäste sich hier verköstigen, spürten sie jeweils ihren Hunger und Durst.
Als das Mahl endlich auf den Tisch kam, waren sie mit sich und der Welt im Reinen. Nicht nur, dass sie alle notwendigen Informationen beschafft und die Lage dokumentiert hatten. Ihre Diskussion hatte sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Zwar hatte zu Beginn jedes Mitglied ganz eigene Ideen, wie man Schilda dereinst aufstellen könnte. Doch nach und nach haben sich ihre Vorstellungen einander angeglichen.
Wegen der unüberwindbaren Sparbarriere blieb all dies den übrigen Gästen verborgen. Vermutlich hätten sie auch nicht verstanden, wie geschehen konnte, dass das Ergebnis des Gespräches kaum mehr etwas mit dem zu tun hatte, was als Einstieg in die Runde geworfen worden war. Am meisten hätte sie vermutlich gewundert, dass sich dabei niemand als Verlierer gefühlt und sich alle stolz mit dem neu Erdachten beschäftigten. Es gab aber nicht nur keine Verlierer, sondern auch keine Sieger. Am Ende saßen da nur Gewinner am Tisch.
Diese besondere Gesprächskultur sollte später auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel beeindrucken. Dieser weilte im Dezember 1796 für einige Tage in Schilda. Er nutzte damals eine zeitliche Lücke zwischen seinen Anstellungen als Privatlehrer in Bern und Frankfurt, um sich ein Bild von den sagenumwobenen Schildbürgern zu machen. Er hatte in der Bibliothek seines früheren Arbeitgebers eine seltene Ausgabe vom „Das Lalebuch“ aus dem Jahre 1598 gefunden, in dem die Geschichten von Schilda als erstes publiziert wurden. Nun wollte er sich ein Bild davon machen, ob es tatsächlich möglich sei, dass die Schildbürger mit ihrer Übersiedlung nach Nordfriesland einen kollektiven Absturz ihrer geistigen Fähigkeiten erfahren haben. Oder ob die Gerüchte, die hie und da zu hören waren, dass die Schildbürger auch weiterhin die geistige Elite der Welt seien, im Kern stimmten. Er glaubte an diese Möglichkeit. Ja, er wollte einfach daran glauben. Denn sollten die Schildbürger tatsächlich noch über ihre geistigen Fähigkeiten verfügen, wäre das für ihn womöglich die Chance, seinen inneren Zwiespalt über den Verlauf der französischen Revolution mit ihnen zu diskutieren.
Es sollte anders kommen. Als er kurz nach Weihnachten 1796 aus Schilda abreiste, drehten sich seine Gedanken nicht mehr um den Sinn der jakobinischen Schreckensherrschaft und damit jener politischen Richtung in Frankreich, welcher er zu Beginn der Revolution nahestand. Er war vielmehr eingenommen von der Art und Weise, wie die Schildbürger mit ihm, vor allem aber untereinander solche Themen diskutierten und nach Lösungen suchten. Wäre er allerdings länger geblieben, um die Arbeitsprozesse der Schildbürger tiefer zu studieren, seine theoretischen Abhandlungen zur Dialektik wären womöglich weit umfassender, tiefer und radikaler ausgefallen. Er hätte erkannt, dass sich der Prozess von These und Antithese um ein Vielfaches effektiver gestaltet, wenn den beiden Parteien weniger daran gelegen ist, mit Ihren Argumenten zu obsiegen, denn zu einem Ergebnis zu gelangen, welches nach Stand des aktuellen Wissens der Wahrheit am nächsten kommt. Außerhalb von Schilda waren und sind diese Voraussetzungen äußerst selten gegeben.
So oder so: Im Jahr 1570 kannte man noch keinen Hegel, und über seine Thesen zur Dialektik machte man sich damals noch keine Gedanken. Überhaupt folgten die Schildbürger hier keinem theoretischen Modell der Gesprächsführung. Sie verhielten sich einfach nur so, wie es ihnen logisch und effektiv erschien. Sie taten alles um die bestmögliche Ausgangslage für ihre Zukunft zu schaffen. Deshalb waren ihre persönlichen Einsichten nicht in Stein gemeißelt, sondern sie waren bereit, diese jederzeit zu Gunsten einer besseren Lösung zu Grabe zu tragen. Mehr noch, es war ihr Ehrgeiz, die neue Idee durch eigene Beiträge weiter zu verbessern.
So war es auch nicht weiter erstaunlich, dass den Vieren bereits mit dem ersten Entwurf von Schilda ein großer Wurf gelungen war. Dieser würde zwar in der nachfolgenden Diskussion der Gemeinschaft noch verändert und vermutlich weiter verbessert werden, aber er bildete ohne jeden Zweifel eine hervorragende Diskussionsbasis.
Man war sich einig geworden, die Stadt auf eine ins Meer ragende Landzunge zu bauen. Die Einheimischen würden das vermutlich als Idiotie bezeichnen. Denn auf einer freistehenden Landzunge ist man Wind und Wetter auf mindestens drei Seiten ungeschützt ausgesetzt. Doch für die Schildbürger würde genau das ein Vorteil sein, bedeutete es doch, dass man nur von einer Seite her Zugang zur Stadt hatte. Man würde so vor den neugierigen Blicken der übrigen Welt maximal abgeschnitten sein. Und das Problem mit dem Wind und Wetter? Das werde man technisch in den Griff bekommen. Darüber war man sich einig,
Die Landzunge ragte in südwestlicher Richtung ins Meer. Dies war gleichzeitig die ortsübliche Hauptwindrichtung, weshalb man den Plan entwarf, die Stadt in Form eines gleichschenkligen Dreieckes dem Wind entgegenzustellen. An der Spitze dieses Dreiecks sollte ein mächtiger, dreieckiger Turm dafür sorgen, dass ein Großteil der Kraft der Luftströme um die Stadt herumgeführt werden. Die angedachten Stadtmauern, die dem Dreieck ihre gestalterische Form gaben, hatten entgegen des Zeitgeistes keine militärische Funktion, sondern leiteten den Wind an die Umgebung weiter. Zudem waren die Mauern ein gutes Mittel, um die Privatsphäre der Bürger zu wahren. Denn im Gegensatz zu den Calvinisten in ihrer alten Heimat, verspürten die Schildbürger keinen Drang, der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass man nichts zu verbergen hatte. Ganz im Gegenteil.
Zu tun und zu lassen, was immer man will, gehörte zu den Grundbedürfnissen der Schildbürger. Man hatte es satt, sich zu verstellen und so zu tun, als wäre man normal. Man war sich vielmehr der eigenen Einzigartigkeit bewusst. Jedes einzelne Mitglied der Schildbürgergemeinschaft war für sich irgendwie einzigartig. In Schilda sollte das niemanden kümmern.
Aus diesem Grunde sollten die Häuser auch keine Fenster besitzen. Nicht weil man etwas zu verbergen hätte, sondern weil man wenigstens zuhause nur das sein wollte, was man tatsächlich war. Die Zeit der Rollenspiele würden vorbei sein. Die Idee von viereckigen Häusern ohne Fenster gegen die Straße stammte übrigens von Woldemar Hesselsz, welcher diese Bauweise in Marokko gesehen und zu schätzen gelernt hatte. Viereckige Häuser mit einem Innenhof, um den herum sich das Leben der Familie abspielte. Die Zimmer einander zugewandt, statt durch lange dunkle Flure miteinander verbunden. Im Erdgeschoß die Arbeitsräume, wo gewaschen, gekocht und gelagert wurde. Im Mittelgeschoß die Gemeinschaftsräume und oben im zweiten Stock, die Privatzimmer. Lichtdurchflutet durch die ins Dach eingelassenen Fenster.
Ein viereckiges, von außen betrachtet schmuckloses Haus ohne Fenster würde dem Gebäude jeden Statuseffekt absprechen. Es wäre einfach nur ein Zweckgebäude. Keine Effekthascherei, kein Ausdruck von Macht, kein Statussymbol. Weil dem Haus jedes Fenster fehlt, würde auch der Standort keine Rolle zu spielen. So hätte es, egal wo es stünde, denselben Wert.
Auch in anderer Hinsicht wollte man bei der Stadtplanung verhindern, dass es privilegierte Wohnlagen gäbe. Am Marktplatz sollten nach den Vorschlägen des Quartetts keine Wohnhäuser zugelassen werden. Vielmehr sollte dieser durch öffentliche Gebäude, wie das Rathaus, die Schule, aber auch Gasthäuser, Ladengeschäfte oder Werkstätten eingerahmt werden.
Zusammengefasst planten die Vier also eine Stadt ohne Fenster, mit Häusern ohne Gesicht und einer Stadtmauer, welche nicht für den üblichen Zweck gedacht war. Wäre da nicht ein anderes Detail in der Planung gewesen, die Menschendes Barocks hätten Schilda wohl als graue Maus des Nordens wahrgenommen. Und vergessen.
Denn das einzig Auffällige, das die Planungsgruppe vorschlug, waren durch und durch weiße Fassaden. Weißes Mauerwerk würde sich maximal von den lokalen Gepflogenheiten abheben und dabei geradezu provokativ jungfräulich wirken. Aber die Farbe Weiß war nicht als Provokation gedacht und hatte auch keine ästhetischen Gründe. Die Vier dachten rein praktisch: Weiße Fassaden an Häusern und Mauern reflektieren das vorhandene Restlicht und halten es in Straßen und Gassen. Diese bleiben damit auch in der Dunkelheit bequem begehbar.
Nachdem die Expeditionsgruppe Nordfriesland auf demselben Weg zurückreiste, wie sie gekommen war, reichten sie ihren Bericht an Margarete von Zaandam weiter, welche davon Abschriften erstellte und an die übrigen Schildbürger weiterreichte. Dieses Mal dauerte es weit weniger lang, bis die Gemeinschaft zum gewünschten Ergebnis kam. Das lag natürlich an der Qualität des Basisvorschlags, welcher kaum Wünsche offenließ. Aber auch an der vorangegangenen Diskussion, deren präzise Vorgaben für die folgenden Planung in etwa jene Wirkung entfaltete, wie die Harmonielehre in der Musik. So folgten die Projektierungsarbeiten im Grunde einer vorgegebenen Logik. Entsprechend waren es eigentlich nur noch technische Details, welche danach noch in die Planung einflossen.
Nichts wurde dem Zufall überlassen. Alles war gründlich durchdacht. Auch jenes Detail, welches die Schildbürger bis zum heutigen Tag zum Sinnbild für absurdes Verhalten machte. Doch was wir heute als den wohl bekanntesten Schildbürgerstreich kennen, ist in Wahrheit das Produkt eines klug durchdachten Konzeptes. Beim Turm, welcher an der Spitze der Stadt gebaut wurde, gingen die Fenster nicht etwa vergessen, sondern wurden mit voller Absicht weggelassen. Denn das Gebäude diente den Schildbürgern nicht etwa als Rathaus, wie mancherorts erzählt wurde, sondern der sicheren Unterbringung ihrer zahlreichen Bücher und Schriften.
Bücher und Papyrus sind im höchsten Maße lichtempfindlich. Wenn man also auf Fenster verzichtete, dann um die Werke vor dem drohenden Verfall zu schützen. Aus demselben Grunde wurde beim Bau des Turmes auf die Verwendung von Holz verzichtet. Damit wollte man das Risiko eines Brandes und den damit verbunden unwiederbringlichen Verlust an Wissen und Kultur reduzieren.
Wenn Schildbürger vor einem Problem standen, welches sie nicht allein mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung lösen konnten, holten Sie sich in den Büchern der Gemeinschaft Rat. Deshalb nannten sie den Turm untereinander scherzhaft auch Rathaus.
Wer genau die Geschichte in Umlauf setzte, man habe aus Dummheit ein dreieckiges Rathaus ohne Fenster gebaut, ist nicht überliefert. Aber sie wirkte. Tatsächlich konnten die Nordfriesen nicht glauben, was sie sahen und lachten sich einmal mehr über die neuen Nachbarn schräg.
Auch die Variante der Geschichte, dass das Rathaus dafür gedacht war, dem schiefen Turm von Pisa eine nordische Entsprechung entgegenzustellen, war zwar frei erfunden, blieb aber nicht ohne Folgen. Seit es den Menschen möglich ist, zur eigenen Belustigung auf Reisen zu gehen, zieht das nordische Wunder Besucher aus aller Welt an. Inzwischen zählen sowohl der Turm, als auch die fensterlosen Häuser Schildas zum Weltkulturerbe und damit zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten des Landes.
Keine Frage: Schilda ist einzigartig auf dieser Welt. Man muss es gesehen haben.
Trotz all der vielen Schaulustigen stehen die Schildbürger auch 450 Jahre nach der Gründung der Stadt nicht im Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Obwohl sich enorme Besucherströme tagsüber durch die Stadt zwängen, bleibt ihr Privatleben privat. Der weisen Voraussicht ihrer Gründerväter und -mütter sei Dank.
Abends verschwinden die Besucher wieder, weil es die Stadt verpasst hat, ihre Seele an den Tourismus zu verkaufen. Denn trotz der vielen Besucher gibt es in Schilda keine touristische Infrastruktur. Keine Restaurants, keine Hotels, Ferienwohnungen, Clubs oder andere Formen der organisierten Zerstreuung. Spätestens ab sechs Uhr abends, wenn die Stände auf dem Marktplatz abgebrochen werden, verschwinden die Touristen deshalb so rasch, wie sie gekommen sind.
Dann werden die Tore der Stadt geschlossen und die Schildbürger haben ihre Stadt wieder für sich. Nun kann man auf Plätzen und Straßen sehen, was die Stadt wirklich ausmacht: Die Leute verlassen ihre Häuser, um sich zu treffen, auszutauschen und das Gemeinsame zu feiern. Genauso wie immer, seit sie sich aus der Isolation des Andersseins befreit haben.
„Stadt ohne Fester“ ist das erste Kapital von Paul Panters neuem Roman „Schattenkinder“. Wenn Sie den ersten Teil noch nicht lesen konnten, klicken Sie auf diesen Link und Sie werden direkt zum vorangegangenen Teil geführt. Wer die Geschichte der „Schattenkinder“ ganz lesen will, kann dies auf der extra eingerichteten Seite hier tun. Hier haben wir das erste Kapital bereits eingefügt.